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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Wo ist Onkel Kurosh?, fragst du. Er ist nach Frankreich gezogen
(gestorben).
Der schöne Nachbarsjunge? Der ist auf der Universität
(im Gefängnis).
    »Also gut«, sagt Saba und atmet tief durch. Warum soll sie Mahtab nicht auf diese Weise ehren? Außerdem, anders als der Rest
könnte
Mahtabs Geschichte durch einen Zauber, der nur Zwillingen zur Verfügung steht, wahr sein. Hat nicht Khanom Mansuri selbst gesagt, dass das Band zwischen Zwillingen unzerreißbar ist? Dass der eine stets die Wahrheit über das Leben des anderen wissen wird? Sie ist der einzige Mensch, der all die Möglichkeiten erkennt, die sich nach jenem Tag am Flughafen aufgetan haben, und all die Verheißungen der eleganten Mutter im Terminal, die ein Mädchen mit Sabas Gesicht an der Hand hielt.
    »Braves Mädchen«, seufzt Khanom Mansuri.
    * * *
    Wir machen das folgendermaßen: Ihr müsst beide versprechen, dass ihr keinem was von Mahtabs Leben erzählt. Ich werde euch ihre Geschichten wie in einer Fernsehserie erzählen, und in jeder Folge wird sie von einem der Zwänge befreit, unter denen Immigranten leiden. Wisst ihr, wenn es eines gibt, das ich aus Büchern, vom Fernsehen und von Freunden im Exil gelernt habe, dann, dass der
American Way of Life
so überwältigend ist, so großartig, dass Außenseiter es mit einer ganzen Reihe von Einwanderersorgen zu tun kriegen. Mit der Zeit wird Mahtab die größten Ängste dieser Art überwinden, eine nach der anderen. Das weiß ich, weil ich meine Schwester kenne. Und in Amerika werden Probleme häppchenweise gelöst – genau wie im Fernsehen.
    Zusammengenommen werden diese einzelnen Folgen die Geschichte von Mahtabs Leben ergeben. Ein paar davon habe ich schriftlich, gut versteckt – vielleicht habt ihr ja recht, und das sind die geheimen Briefe meiner Schwester an mich.
Einwanderersorgen:
die Beschreibung, wie sie sich von ihrem alten Leben löst und mich meinem überlässt. Am Ende wird sie keine Immigrantin mehr sein, und sie wird kein Zwilling mehr sein.
    Zu Anfang solltet ihr wissen, dass Mahtab genau wie Alex P. Keaton und meine beiden Eltern versessen auf akademische Bildung ist. Sie will nach Harvard, weil das die beste Universität ist, die einzige, die Iraner kennen. Es ist ein Freitagnachmittag im vergangenen April, Mahtab sitzt auf der Bordsteinkante neben ihrem Briefkasten in Kalifornien und wartet. Sie betrachtet die Panther-Lilien – in Kalifornien wachsen nämlich Panther-Lilien, und auf Englisch beschreibt man die als
verdant
und
vibrant
. Eine Fliege umschwirrt ihr Gesicht. Eine
pari
, eine hübsche Glücksfee von der Sorte, die sich ausschließlich um treue Anhänger alter Märchen kümmert, sitzt oben auf dem abblätternden Zaunpfosten, unbeachtet von den Passanten, die ihr schwaches Summen mit dem einer Biene verwechseln.
    »Ah, eine
pari!
Das bringt Glück«, sagt Khanom Mansuri.
    »Ich hab mal eine
pari
gesehen«, sagt Agha Mansuri. »Genau an dem Tag, an dem meine Mutter gestorben ist.«
    Mahtab ist sich bewusst, dass sie großes Glück gehabt hat, mit ihrem schönen Leben und den glücklichen Zufällen. Sie versucht, nicht an Saba zu denken, ihre unglückliche Zwillingsschwester, denn warum sollte sie die
pari
daran erinnern, wie ungerecht das alles ist? Glück ist schließlich nicht immer so schwarz-weiß, und Segnungen können einem vergällt werden. Vielleicht hat ein glücklicher Tag im Alter von elf Jahren die gesamte Glückszuteilung ihres Lebens aufgebraucht. Vielleicht steht sie auf einem Gipfel, und jetzt kommt die Zeit des Absturzes.
    »Hmm«, sagt Khanom Mansuri, »solche Gedanken macht sie sich jetzt? Das ist traurig.«
    Vorsichtshalber besänftigt sie die Einwanderer-Götter mit fleißiger Arbeit und Schweiß. Jeden Tag nach der Schule schuftet sie in einem Pancake-Diner. Wenn nachmittags mal nicht viel zu tun ist, unterhält sie sich mit José, dem Geschirrspüler im mittleren Alter, der, wie sie vermutet, ein illegaler Einwanderer aus Mexiko ist – das liegt im Süden. Wenn José nicht redet, vertreibt er sich die Zeit mit Liedern. Er singt zu Otis-Redding-Kassetten in der Küche, und daher weiß Mahtab auch, dass er Englisch spricht. Sie mag José. Er hat widerspenstiges, grau meliertes Haar und gütige Augen. Er ist nie glatt rasiert, und er hat dicke schwarze Koteletten, die unter einer abgetragenen Baseballmütze hervorlugen. Er schält für sie Möhren und macht ihr Sandwiches, die er nach der Arbeit auf der Theke liegen

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