Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
Wichtige an einem Lied ist, aber das stimmt nicht. Für Saba sind die Worte entscheidend, und die Musik ist bloß sekundär. Sie singt im Flüsterton:
»You got a fast car. But is it fast enough so we can fly away?«
    »Hä?« Reza wendet den Kopf. Sieht sie verwundert an.
    »Das ist das Lied, das du gesummt hast«, erklärt sie und hofft, dass er mit ihr weitersingt.
    Aber Rezas Gesicht wird hart, und er sagt: »Nicht jetzt, Saba.« Dann fügt er hinzu: »Mir gefällt einfach nur die Melodie«, und sie erinnert sich an seinen naiven Glauben an die Musik, die jetzt ein Verbrechen ist, wie so viele schöne Dinge.
    Er betrachtet sie, und sie versucht, glücklich auszusehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie wünscht, sie hätte nichts gesagt. Schon wieder hat sie ihn beleidigt und daran erinnert, dass er ein Dorfjunge ist. Sie überlässt es ihrem Gesicht, den Ausdruck anzunehmen, den es will. »Du vermisst Mahtab«, sagt er. Sie lacht leise über ihr altes Ritual. »Trink einen Schluck.« Er hält ihr die Papiertüte hin, und sie nimmt einen langen Zug, der ihr in der Kehle brennt.
    »Vermisst
du
Mahtab?«, fragt sie.
    »Ich hab Mahtab sehr gemocht«, sagt er halb ernst. »Sie hatte ein schönes Gesicht … und hübsche Finger.« Er berührt die Spitze von Sabas Finger. Sie zieht die Hand nur leicht zurück, und er lächelt.
    Als sie klein waren, vor der Revolution und der Pubertät, durften sie gemeinsam auf der Straße spielen. Reza kannte Mahtab höchstwahrscheinlich nicht besser, als jeder andere außerhalb ihres Zwillingsuniversums sie kannte. Saba blickt zum Himmel hoch und trinkt noch einen Schluck. Die Hitze der Flüssigkeit befreit ihre Kehle und macht sie mutiger, glücklicher. »Mahtab hat dich auch sehr gemocht.«
    »Da bin ich froh«, sagt er, und sie lassen die Flasche im Gedenken an Mahtab hin- und herwandern. Reza lehnt sich etwas anders an die Wand, schiebt die Beine vor, sodass sein Oberkörper tiefer rutscht, auf gleiche Höhe mit Sabas. »Ich hab immer gedacht, ihr beide wärt Prinzessinnen«, sagt er. »Ich hab gedacht, ihr würdet den amerikanischen Prinzen aus der Illustrierten heiraten, und wir alle müssten euch hinterhertrauern.«
    »Wir beide?«, sagt sie. Die Luft ist schneidend kalt, aber Sabas Wangen werden warm. Sie weiß, was Reza macht. An den Tagen, an denen er für ein bewunderndes Publikum Fußball und Gitarre spielte, hat er den grausamen männlichen Instinkt entwickelt, jeder Frau eine Falle zu stellen, die ihm ein williges Opfer scheint. Gelegenheiten zu sammeln, damit er im Alter auf dem Marktplatz prahlen kann:
Die hätte ich haben können … und die … und, ja, die auch.
    Sie fragt sich, ob Reza von Amerika träumt; außer den Bildern im Fernsehen hat er keinerlei Vorstellung davon. Würde Mahtab ihn auch lieben? Reza hat eine Gilaki-Seele, wie ihr Vater. Er interessiert sich zwar für die Landwirtschaft und stellt Agha Hafezi manchmal entsprechende Fragen, aber er ist ganz zufrieden mit seinen Gelegenheitsjobs und dem kleinen Verkaufsstand am Meer, wo er von seiner Mutter gefertigte Binsenkörbe, Luffas, Besen, Essiggurken, eingemachtes Gemüse und Konfitüren feilbietet. Er hasst Großstädte und den neuen Iran. Er sehnt sich nach einem schönen, gemächlichen Wasserpfeifennachmittag in dem Iran seiner Kindheit, so wie Saba sich nach Amerika sehnt. Er verachtet Veränderungen, großspurige Touristen, Religion und seinen Platz in der Moschee neben den abgelegten Sandalen, den er widerwillig regelmäßig einnimmt. Er liebt die
setar
seines Vaters und die Beatles.
    »Kein Mann sollte wählen müssen«, sagt er. »Und Zwillinge … stell dir vor, was ihr für ein Anblick gewesen wärt.« Er berührt die Haarlocke, die unter ihrem Kopftuch hervorquillt. »Vielleicht hat Gott sie geholt, um euch vor Menschen wie Mustafa zu schützen.« Saba nickt, kämpft gegen die Enge in ihrer Kehle an. Er sagt: »Weißt du, ich hab mal gesehen, wie ein Mann ausgepeitscht wurde, weil er in seinem eigenen Haus eine Frau auf die Wange geküsst hat. Ein
pasdar
ging gerade am Fenster vorbei.«
    »Das kann nicht sein«, sagt sie. »Nicht im Shomal. Auf dem Markt hab ich mal ein Paar gesehen, das sich auf die Lippen geküsst hat.«
    »Und weil du gesehen hast, dass zwei mit einem Kuss auf die Lippen davongekommen sind, kann ich nicht gesehen haben, dass einer für einen Kuss auf die Wange ausgepeitscht wurde?« Saba zuckt die Achseln. Sie ist jetzt ein bisschen beduselt. »Die zwei auf dem Markt,

Weitere Kostenlose Bücher