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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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werden lebendig. Sie beschreibt sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit ihren Armen, die sie betrübt über dem Herzen verschränkt, mit ihren Fingern, die tausend unterschiedliche Gesten tanzen, mit ihren Augenbrauen, die sich heben und senken und wieder zusammenziehen, mit dem traurig-lyrischen Tonfall ihrer Stimme. Ihre Augen ruhen die meiste Zeit auf Reza, als würde sie diese Geschichte nur für ihn erzählen, sich eine grandiose Liebesgeschichte für ihn vorstellen. Und vielleicht erinnert sie sich ein wenig an ihre eigenen Verluste.
    Nach kurzer Zeit fällt Saba auf, dass Ponneh unruhig wird und sich in diesem Kreis offenbar nicht mehr wohlfühlt. Bestimmt denkt sie an Mustafa und ihren schmerzenden Rücken. Der verbitterte Ausdruck auf ihrem Gesicht löst sich nicht, und mitten in der Erzählung steht sie mühsam auf und schleicht sich leise nach draußen, Richtung Sabas Zimmer. Khanom Basir sieht, wie die Augen ihres Sohnes ihr folgen. Sie erzählt ihre Geschichte zu Ende und nimmt den Applaus der Nachbarn entgegen. Sie kostet diesen huldvollen Abschluss aus – obwohl andere die Aufmerksamkeit möglicherweise abtun würden –, wahrscheinlich, weil ihr besonderes Können, die Fähigkeit, die Emotionen der Zuhörer mit ihrer Erzählkunst zu fesseln, der Grund dafür ist, dass sie, eine ungebildete und mitunter boshafte Frau, so beliebt und begehrt ist. Es ist der Grund dafür, dass ihr Haus immer voll ist und sie zu jedem Fest eingeladen wird. Der Grund dafür, dass Mädchen wie Saba, Mädchen ohne Mütter, sich so darum bemühen, ihre Liebe und Zuwendung zu gewinnen.
    Als sie die Geschichte zu Ende erzählt hat, nutzt Khanom Basir die Gunst der Stunde, um Khanom Alborz zum zigsten Mal nach dem Paar zu fragen. »Also, Khanom«, sagt sie halb im Scherz, »wann können wir denn nun zum
khastegari
kommen? Ich sage dir, die beiden gehören zusammen.«
    Khanom Alborz reagiert gereizt. »Meine Liebe, wie oft soll ich das denn noch sagen? Ehe ihre älteren Schwestern nicht verheiratet sind, kann sie nicht heiraten. Das wäre eine Beleidigung für die anderen.«
    »Für die Gesunden, ja, aber auch für die Kranke? Und in so schweren Zeiten?« Sie stockt. Khanom Alborz war den ganzen Tag unterwegs und weiß noch nichts von Mustafa.
    »Nein. Ich habe Nein gesagt.« Khanom Alborz hebt die Hände und schüttelt den Kopf. Das ist die einzige Angelegenheit, in der ihre Überzeugung stärker ist als ihre Angst vor Khanom Basir. »Ihre Schwester kann nichts dafür, dass sie krank ist. Warum soll sie als Einzige leiden? Wir haben alle gelitten, seit ihr Vater starb. Und er hätte es so gewollt. Alles hat seinen Preis.«
    Es kommt selten vor, dass Saba die stolze Khanom Basir aufrichtig erlebt, schmerzerfüllt, sogar unterwürfig. Sie flüstert: »Aber Khanom, sie lieben einander.«
    Saba versucht, das zu ignorieren. Warum sollte sie sich durch das Gerede von zwei älteren Frauen verletzen lassen? Dennoch, offenbar will die Welt, dass Reza sich für Ponneh entscheidet.
    »Irgendwann werden sie gute Ehemänner finden. Sie sind noch jung«, sagt Khanom Alborz. »Aber wenn du so gern Heiratsvermittlerin sein willst, solltest du jemanden für Agha Abbas suchen. Er braucht Hilfe und hat nicht mehr viel Zeit.«
    »Wieso braucht der Hilfe?« Kasem klingt verärgert. »Er ist reich.«
    Abbas Hossein Abbas ist mit seinen fünfundsechzig Jahren einer der ältesten Junggesellen in Cheshmeh. Der Witwer hat keine lebenden Kinder oder Enkelkinder und hat in letzter Zeit durchblicken lassen, dass er einsam ist und nicht abgeneigt wäre, sich wieder zu verheiraten – obwohl alle glauben, dass es ihm nur um eine letzte Chance auf Nachkommen geht. Saba kennt ihn kaum, weil Abbas seit Jahren nicht mehr im Haus ihres Vaters war. Khanom Omidi sagt, er meidet größere gesellschaftliche Anlässe und bleibt lieber in seinem Haus oder auf dem Marktplatz, wo er mit anderen alten Müßiggängern raucht und plaudert.
    Reza macht Anstalten, aufzustehen und Ponneh zu folgen, aber der drohende Blick ihrer Mutter lässt ihn zurück auf die Kissen sinken. Als Ponneh schließlich kurz zurückkommt, um sich eine Tasse Tee zu holen, trottet Reza durch die Küche davon. Saba sammelt ein paar Teller ein und will den Raum ebenfalls verlassen. Doch dann sagt Khanom Basir: »Wie wär’s mit Saba?« Saba hat das Gefühl, als würde Khanom Basirs Schlangenzunge sich blitzschnell um sie winden wie ein Strick und sie zurück ins Zimmer zerren.
    »Das wäre eine

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