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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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waren die über achtzig oder unter sechs?«
    »Sehr witzig«, sagt Saba spöttisch. Sie kann es nicht ausstehen, wenn er so tut, als wäre er älter. Das ist so durchschaubar.
    »Du weißt nicht viel, was?«, sagt er. »Du denkst, es gibt eine Rangfolge von Küssen. Wangen, dann Mund und so weiter. So was denken kleine Kinder.«
    »Na und?« Sie verschränkt die Arme und versucht, sich nicht über seine Arroganz zu ärgern. Mit Reza über Küsse zu sprechen ist, als würde sie in einer Bäckerei stehen und einen warmen Kuchen in der Hand halten, an dem sie aber nur schnuppern dürfte.
    »Also, Khanom, ein Kuss auf die Wange kann viel ernsthafter sein als ein Kuss auf den Mund.«
    »Ach, ein bisschen viel Experten-
bazi
. Was weißt
du
denn schon?« Saba richtet sich auf und will weggehen, aber Reza fasst ihren Arm, zieht sie an sich.
    Er nimmt ihr Gesicht fest in beide Hände und sagt mit dem schrillen Gilaki-Akzent der alten Männer auf dem Dorfplatz: »Komm her, Kleine, wehr dich nicht und gib uns einen Kuss.« Saba will sich aus seinem Griff winden, wird aber von einem Lachanfall geschüttelt.
    »Oh, warte«, sagt Reza. »Ich hab vergessen, mein Gebiss rauszunehmen.« Dann schmatzt er mit den Lippen und drückt sie fest auf die rechte Hälfte ihres Mundes.
»Bah, bah«
, seufzt er. »Dafür wird doch wohl keiner einen unschuldigen alten
hajji
auspeitschen wollen.«
    Saba wischt sich übertrieben heftig den Mund ab. »Okay, ich hab’s verstanden.« Sie lächelt, obwohl sie einen Anflug von Bedauern empfindet. Ihr erster Kuss: vertan. Ob Mahtab inzwischen ihren ersten Kuss erlebt hat? War er filmreif? Vielleicht erlebt sie ihn gerade jetzt, irgendwo im amerikanischen Nordosten – oder in Holland oder England oder Frankreich.
    »Khanom«, sagt er. »Du verstehst noch gar nichts.«
    Er legt die Papiertüte weg. Sie sieht an ihm vorbei. Wenn Reza sie so anschaut, auf dem Basar, in der Vorratskammer oder auch in ihren Träumen, blickt sie immer weg, hat nie genug Mut. Sie hat die Hände hinten an die Oberschenkel gelegt, aber er ertastet sie und verschränkt seine Finger mit ihren. Er summt leise, und sie riecht den Alkohol in seinem Atem, als er seine Wange an ihre legt. Er ist glatt rasiert, seine Haut wie warmes Schmirgelpapier. Sie fragt sich, ob er hören kann, dass ihr Blut schneller pumpt, verräterisch wie ein glucksender Magen, oder ob er spürt, dass ihre Wange an seiner Haut Feuer fängt. Sie versucht, keine Bewegung zu machen oder zu auffällig zu schlucken, aus Angst, sich zu blamieren. Trotzdem kann sie ihren eigenen Atem hören, als sie den Sandelholzduft seiner Seife inhaliert und sich fragt, warum der simple Akt des Lebendigseins so laut sein muss. Aber Reza achtet nicht darauf. Seine Lippen berühren ihre Wange und verharren dort. »Siehst du?«, raunt er ihr ins Ohr, während er nach der Flasche greift und ein Finger achtlos die Haut um ihr Handgelenk liebkost. »Versuch mal, mit so was ungeschoren auf dem Markt davonzukommen.« Seine Lippen streifen über ihren Mund, als sie sich zu ihm neigt.
    In der nächsten Sekunde springt Reza zurück, das Gesicht aschfahl.
    Kasem ist da, starrt sie ungeniert an. Ein neugieriges Grinsen und ein wütendes Blitzen zeichnen sich gleichzeitig auf seinem Gesicht ab. Reza macht ein paar Schritte auf ihn zu, aber dann fährt Kasem herum und läuft zurück ins Haus, Reza mit vollem Tempo hinter ihm her. »Kasem, warte! Warte doch!«
    Die Hintertür knallt hinter Reza zu, als er versucht, Kasem einzuholen. Saba zittern die Hände. Hastig versteckt sie Rezas Alkohol. Ihre Haut ist wie Eis – nur der kleine Fleck mitten auf ihrer rechten Wange, wo die Reste des Feuers noch nicht erloschen sind, bleibt weiter warm und rosig.
    Wenige Augenblicke später kommt Reza zurück. »Ich bin ihm nicht weiter gefolgt«, sagt er. Das Kopftuch ist ihr auf die Schultern gerutscht, und er zieht es mit beiden Händen wieder hoch. Er sieht zurück zum Haus. »Es würde noch schlimmer aussehen, wenn ich versuchen würde, ihn am Reden zu hindern. Geh zu Ponneh. Sag, du wärst die letzte halbe Stunde in deinem Zimmer gewesen. Sie wird das bestätigen.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Natürlich. Ponneh würde uns nie Ärger machen. Geh jetzt.«
    Durch die Seitentür hastet Saba ins Haus und in ihr Zimmer. Dort sitzt Ponneh auf dem Bett und ruht sich aus. Sie hat zwei von Sabas englischen Romanen auf dem Schoß liegen. Verständnislos fährt sie mit dem Finger über die Titelseite des dickeren

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