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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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eines Geistlichen vertretbar ist. Aber Mullah Ali ist ein seltenes Exemplar. Wenn Saba ein Witz dieser Art über die Lippen käme, würde sie von jeder Respektsperson in Hörweite strengstens getadelt, aber wenn man im fortgeschrittenen Alter, verheiratet und Gast bei den Hafezis ist, gibt einem das aus unerfindlichen Gründen das Recht, das Kopftuch einen Zentimeter nach hinten zu schieben, die Zehen unter dem Rock hervorlugen zu lassen, auch wenn der Nagellack stellenweise abgeplatzt ist (Khanom Basirs schrulliges Laster, ihr ganz eigenes Mode-
bazi
), sich auf den Kissen zu rekeln und Witze über Hoden zu erzählen, sich sogar über den neuen Iran lustig zu machen. Es spielt keine Rolle, dass Männer und Frauen so zusammen sind. Sie sind älter. Das hier ist privat. Und es schauen keine jungen
pasdars
und Nachwuchsgeistlichen zu.
    »Er ist kein
Pfleger
«, wendet Agha Hafezi, der Gastgeber des Abends, ein, »er ist Arzt und bereit, in Cheshmeh zu bleiben. Ein zugelassener Spezialist für Skoliose und andere Erkrankungen. Ich würde sagen, wir vergessen die Vorschriften und machen eine Ausnahme.«
    »Nein, nein, Agha.« Mullah Ali tippt sich an die Stirn. »Diese Übung erweitert mein Bewusstsein.«
    Agha Hafezi sieht Saba achselzuckend an, und sie hebt beide Augenbrauen. Ponneh verzieht das Gesicht. Wie kann Khanom Alborz das hinnehmen?
    Der Mullah spricht weiter. »Es gibt Möglichkeiten, einen Mann
mahram
zu machen, sodass er ihr Zimmer betreten darf.« Die Gäste starren ihn gebannt an. Wenn Mullah Ali die Lösung zu einem Problem gefunden hat, ganz gleich, wie groß oder klein, ist er so warmherzig und unterhaltsam wie ein Geschichtenerzähler im Teehaus. Er fesselt die Aufmerksamkeit der Menschen mit großen Augen und aufgeblähten Wangen. Mit erhobenem Zeigefinger lässt er den Blick durch den Raum wandern und wartet darauf, dass jemand eine Vermutung äußert.
    »Der Mann wird sie niemals heiraten«, sagt Khanom Basir. Sie sieht Khanom Alborz an, die Mutter, die sie soeben beleidigt hat. »Tut mir leid, aber es stimmt. Nicht, weil sie nicht so schön ist wie ihre Schwestern … sie ist einfach … zu krank.«
    »Ich weiß es! Ein Bruder ist
mahram
!«, meldet sich Kasem aufgeregt zu Wort und wirft Saba einen verstohlenen Blick zu, bei dem sie sich angewidert abwendet. Es ist für jeden offensichtlich, dass Kasem der Einzige ist, der diese Diskussion ernst nimmt.
Bin ich wirklich mit diesem Dummkopf verwandt?
, denkt Saba. Wenn er was zu schreiben hätte, würde er sich wahrscheinlich Notizen machen. Mullah Ali lacht und nimmt Kasems rundliches Gesicht in beide Hände. Agha Hafezi legt einen schützenden Arm um die Schultern seines Neffen. Saba möchte schreien, weil es so ungerecht ist. Stattdessen leiert sie im Kopf eine Reihe
c
-Wörter aus ihrer Liste herunter:
coward, cretin, creepy-crawly cactus creature 
– Kriecher, Kretin, krauchende Kaktus-Kreatur. Sie beglückwünscht sich selbst zu ihrer Wortgewalt. Mahtab wäre stolz auf sie und vielleicht auch ein bisschen neidisch, weil Saba diese Leistung nicht an einer amerikanischen Schule geschafft hat, sondern aus eigenen Stücken in Cheshmeh.
    »Ganz recht, mein Junge. Und wie
machen
wir ihn zu ihrem Bruder?« Mullah Ali nippt an seinem Tee. »Sie müssten von derselben Brust genährt werden. Dann sind sie Bruder und Schwester.«
    Alle tun dem Mullah den Gefallen, wenigstens ein bisschen zu lachen. Khanom Alborz bekleckert ihren mintgrünen Umhang mit Tee und greift nach einem Tuch. Khanom Omidi, die sich ihres Schielauges stets bewusst ist, zieht Saba in ihr Gesichtsfeld und drückt sie an ihren gewaltigen Körper. Ihr fleischiger Hals riecht nach Jasmin, und Saba fällt in das Lachen mit ein, als die muntere alte Frau laut sagt: »Siehst du, Kind? Ich hab’s dir doch gesagt. Jeder Kandidat muss einen gewissen Hirnschaden nachweisen, um in die Mullahschule aufgenommen zu werden.«
    Der Mullah sagt mit liebenswürdiger Stimme, die er nur bei den Alten benutzt: »Aber, gute Mutter, wenn wir nicht kreativ denken würden, wie soll dann hier überhaupt irgendwas klappen?«
    Khanom Omidi knufft ihr Rückenkissen zurecht. »Zu viel Kreativität.«
    Jetzt hat Khanom Basir, die Geschichtenerzählerin, ihren Auftritt. Sie rückt ihr Kissen näher an den
sofreh
, sitzt da mit geradem Rücken, die Beine unter den Körper gezogen, den Rock straff über die Knie gespannt. Sie erzählt die alte Geschichte von Leila und Madschnun, und die unglücklichen Liebenden

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