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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Buches.
The Joy Luck Club
. Ponneh liest kein Englisch. Sie starrt auf den Umschlag von Goldings
Lord of the Flies
und murmelt leise etwas auf Gilaki. Saba, die jeden Monat ein halbes Dutzend Romane kauft oder eintauscht, beäugt ihre neuesten Anschaffungen, kürzlich erschienene Taschenbücher, die sie dem Teheraner für das Zehnfache des eigentlichen Preises abgekauft hat. Ponneh überdehnt die Buchrücken, aber das ist Saba egal. Sie lässt sich zittrig auf die Bettkante sinken, hält das Kopftuch fest um den Hals geschlossen.
    »Was hast du denn?« Ponneh setzt sich aufrechter hin. Sie reibt Saba, die noch immer zittert, sachte den Rücken.
    »Ich … krieg … tierisch Ärger«, flüstert Saba. Sie umklammert ihren Hals, und das Gefühl des erstickenden Wassers überkommt sie wieder. Es schert sie nicht, dass Ponneh sie beobachtet.
    Ponneh verstaut die Bücher unter einem Kissen und schafft es irgendwie, bis dicht neben Saba zu rücken, obwohl sie bei jeder Bewegung das Gesicht verzieht. »Was?«, sagt sie. »Was hast du gemacht?«
    »Nichts. Aber Kasem meint, er hätte gesehen, wie wir uns … O Gott, ich krieg tierisch Ärger.«
    »Beruhige dich«, sagt Ponneh fast ohne Mitgefühl, als wollte sie andeuten, dass das nichts ist im Vergleich zu ihrer eigenen Tortur. Die Gleichgültigkeit in Ponnehs Stimme zerrt Saba an den Nerven. »Nun sag schon. Was habt ihr gemacht?«
    Saba starrt in das fragende Gesicht ihrer Freundin. »Er hat mich nur auf die Wange geküsst. Es war bloß ein Kuss auf die Wange. Das ist doch nicht so schlimm, oder? Wir machen das andauernd.«
    Ponneh seufzt. »Ich fass es nicht. Wie könnt ihr ausgerechnet heute so ein Risiko eingehen?«
    »Es war nichts!«
    Ponnehs Augenbrauen ziehen sich zusammen, und ihr Gesicht wird noch blasser. Sie nimmt Sabas Hand – eigentlich nur zwei Finger. »Kannst du nicht
ein Mal
die Füße still halten? War der Tag nicht schon schlimm genug?« Saba merkt, dass Ponneh sich noch immer Selbstvorwürfe macht, weil sie schwach geworden ist.
    »Wenn Kasem uns verpetzt –«
    »Soll ich sagen, dass wir schon eine ganze Weile zusammen hier waren?«, fällt Ponneh ihr ins Wort.
    Saba nickt. Sie spitzt die Ohren, versucht zu hören, was jetzt im Wohnzimmer vor sich geht. Sie kann Stimmen unterscheiden. Kasem, Mullah Ali, das Gekrächze der Frauen. Ihren Vater hört sie nicht. Einige Momente vergehen, dann steckt Khanom Omidi den Kopf zur Tür herein. »Meine arme Saba, was ist passiert?« Sie kommt zu Saba gewatschelt und setzt sich aufs Bett, zieht Sabas Kopf auf ihren ausladenden Schoß.
    »Kommt Baba? Was hat Kasem gesagt?«
    »Vorläufig hast du noch Glück, mein Kind. Gleich nachdem du aus dem Zimmer bist, ist dein Baba zum Verwalter gegangen, um Feuerholz zu holen. In zehn Minuten ist er wieder da. Noch weiß er von nichts. Aber wieso hast du dich draußen mit Reza rumgetrieben? Du bist doch ein kluges Mädchen! Immer so vorsichtig!«
    »Ich hab nichts gemacht, Ehrenwort. Wir sind uns bloß zufällig begegnet. Er hat mich auf die Wange geküsst, und das hat Kasem gesehen und falsch gedeutet.«
    »Kasem hat Mullah Ali erzählt, ihr hättet sehr viel mehr als nichts gemacht«, sagt Khanom Omidi. »Ich
hoffe
doch, ihr habt mehr gemacht, Saba-dschan, sonst wird das ein sehr teures Nichts.« Sie stößt ein trauriges kurzes Lachen aus und lässt es verklingen. Anders als andere Mütter hat diese nachsichtige alte Frau die Mädchen nie dazu angehalten, auf Vergnügungen zu verzichten, sondern sie nur ermahnt, sie geheim zu halten. Sie scheint enttäuscht, dass Saba keine sinnlichen Pikanterien zu erzählen hat.
    »Was für eine Verschwendung«, flüstert Saba. Sie malt sich all die Bestrafungen aus, die Mullah Ali sich einfallen lassen könnte – dass sie ausgepeitscht oder mit Kasem verheiratet wird. Am schlimmsten ist die Vorstellung von Khanom Basirs zornigem Blick, wenn sie Reza für alle Zeit verbietet, Sabas Haus zu betreten.
    Khanom Omidi befreit Saba von ihrem Kopftuch und streichelt ihr das Haar. Sie küsst sie auf die Schläfe und reibt ihr die Wangen mit knittrigen, salzigen Fingern. Saba wünschte, sie wäre am Morgen gar nicht aufgewacht. Jetzt ist alles anders, und sie hasst diese Welt, die sie plötzlich umgibt wie eine Tentakelpflanze, die heimlich, still und leise herangewachsen ist, bis nichts mehr ihre Fangarme daran hindern kann, Saba zu erwürgen. Sie will fliehen. Vielleicht wird sie eines Nachts aufwachen und zu Rezas Haus laufen … ihn

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