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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Agha Mansuri häufig zu Besuch, und Saba verbringt zahllose langsame, träge Nachmittage in ihrer Gesellschaft – lauscht ihren Geschichten, schabt Gurken, süßt Tee. Sie beobachtet die beiden Alten, wie sie sich gegenseitig mit den unterschiedlichsten Sorten Brei füttern – in einer Schale geriebene Äpfel, zerstampfte Melone in einem Glas mit Eis, süßen Safranreispudding mit Rosenwasser, aber ohne Mandeln –, und allmählich sieht sie sich selbst im Alter, nicht als Witwe, sondern als geliebte Ehefrau. In siebzig Jahren wird ihr vielleicht ihr eigener Ehemann das Essen stampfen. Sie hat noch so viele Jahre nach Abbas, denkt sie. Es gibt viele Möglichkeiten, wie ihre Geschichte enden kann.
    Frühlingskühle liegt in der Luft, daher bereitet sie einen Fußofen für das Trio vor, den sie ihnen unter einer dicken
korsi
-Decke vor die Füße stellt. Sie loben sie und behaupten, die Ehe hätte sie besonders liebenswürdig gemacht, besonders aufmerksam für die Bedürfnisse Älterer. Im milden Shomal, wo ein Heizofen genügt, ist ein
korsi
ein echter Genuss. Möge Gott sie segnen, beten sie.
    »Saba-dschan, du wirst in Khanom Basirs Haus gebraucht.« Ihr Vater kommt in einem dünnen Hemd und weiten Hosen heraus. Er gesellt sich zu den Älteren unter dem
korsi
und pafft seine Wasserpfeife, sendet mit Rauchkringeln seine Grüße an die Frauen in Sabas Leben.
    Agha Mansuri ist fast damit fertig, einen Granatapfel zu entkernen. Er packt eine Handvoll Kerne mit seiner blau geäderten Faust und wirft sie in eine Schale. Die Kerne hüpfen hin und her, hinterlassen blutrote Streifen an den Porzellanrändern. Schließlich landen sie auf einem ordentlichen Häufchen, eine Masse aus rubinroten Juwelen. Der Blick seiner Frau fällt darauf, und sie greift mit zittriger Hand nach einem. »Noch nicht, Khanom. Warte, bis die Schale voll ist, dann kannst du mit einem Löffel zwanzig auf einmal nehmen.« Als sie den Kern zurücklegt, huscht ein schuldbewusster Ausdruck über sein Gesicht. »Nein, nein. Fang ruhig schon an. In unserem Alter, was, wenn wir das Ende nicht mehr erleben?«
    So große Gefühle wegen eines Granatapfelkerns. Manchmal, in schwermütigen Momenten, denkt Saba darüber nach, was sie verpasst. Sie hat in ihrem Leben auf viele Sorten von Zuneigung verzichten müssen. Als sie aufsteht, um zu gehen, hört sie Khanom Mansuris brüchige Stimme, hoch und zittrig wie alte Geigensaiten. »Wer hat eine gute Geschichte für uns?«
    * * *
    Monate sind vergangen, seit Saba, Reza und Ponneh im Kreis in der Vorratskammer ihres Vaters gesessen haben. Monate sind vergangen, seit sie gemeinsam geraucht und getrunken, Geschichten erzählt und über die ahnungslosen Erwachsenen gelacht haben. Und die ganze Zeit hat sie sich täglich gefragt: Wo ist er jetzt? Ist er in Ponnehs Armen, irgendwo in einer Gasse? Wartet er an einem heimlichen Treffpunkt auf sie? Ponneh hat ihre Dreisamkeit zwar immer beschützt, aber außer Reza ist kaum jemand da, den sie heiraten kann. Der Krieg mit dem Irak hat so viele Männerleben gekostet. Saba fragt sich, wie Reza der Einberufung entgangen ist – vielleicht hat er ein medizinisches Schlupfloch gefunden oder einfach nur Glück gehabt –, schließlich hat er kein Geld, um Leute zu bestechen. Sie hat ihn nie danach gefragt, weil es bei den Männern ein unbeliebtes Thema ist, das Unglück bringt. Der Krieg ist jetzt vorbei, aber noch immer hat sie nervöse Träume, dass er an irgendeine ferne Front geschickt oder nachts von Dieben oder der Sittenpolizei überfallen wird. Nach jedem Traum wacht sie schweißnass und mit schlechtem Gewissen auf, weil ihre Mutter ihr beigebracht hat, niemals Männern hinterherzutrauern, ihr Glück nicht von ihnen abhängig zu machen und Erfüllung in Arbeit und Studium zu finden. Sie gehorcht der Stimme ihrer Mutter und schüttelt Reza ab, bis er verschwindet, bis der junge und unternehmungslustige Gefährte aus ihrem Traumuniversum wieder namenlos ist.
    Er hätte ihr beistehen können, als sie erwischt wurden. Er hätte sie verteidigen können. Aber er war schwach und tat nichts, und jetzt würde sie ihn nicht mehr wollen.
    Doch in diesem kleinen Ort ist es kaum möglich, ehemaligen Geliebten aus dem Weg zu gehen. Und jetzt, wo Saba verheiratet ist, hat Khanom Basir keine Bedenken mehr, sie um Gefälligkeiten zu bitten, ihr klatschsüchtige Fragen zu stellen und die Nase in ihre Privatangelegenheiten zu stecken. Nicht ein einziges Mal hat sie sich dafür

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