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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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verbirgt, und liest
Die Gefangene
, einen Gedichtband der bekannten persischen Lyrikerin Forough Farrokhzad, deren Werke verboten sind und die wie Saba ihre Ausbildung abbrach und jung heiratete.
O Sterne
, schreibt sie über eine verlorene Liebe,
was geschah, dass er mich nicht wollte?
    Saba verweilt bei dieser Zeile, eine vorübergehende Schwäche. Was geschah?
    Nachdem sie sich vergewissert hat, dass Abbas wirklich fort ist, geht sie hinten hinaus und zum Haus ihres Vaters. Als sie die Küche betritt, hört sie aus dem Wohnzimmer Agha Hafezis Musik, deren weiche Klänge die dünnen Mauern durchdringen und ihre Ohren liebkosen. Er lässt eine Kassette mit französischen Chansons laufen. Saba erkennt auf Anhieb »Le temps des cerises«, das Lieblingslied ihres Vaters. Wenn er sich das anhört, ist er in einer anderen Welt, gegen seine Kissen gelehnt, und sehnt sich eine andere Zeit herbei, die Augen müde, dunkle Schlitze, die den rauchgeschwängerten Raum mit unerfüllten Hoffnungen durchfluten. Er versteht den Text des Liedes nicht, aber etwas versteht er dennoch. Die Melancholie. Die Erinnerung.
    Ponneh und Reza warten in der Vorratskammer schon auf sie. Seit sechs Monaten hat sie Reza nicht mehr aus der Nähe gesehen. Er wirkt irgendwie verändert. Sein Kinn ist ein wenig rundlicher geworden und von dichteren Bartstoppeln bedeckt. Seine Haut ist blasser. Es steht ihm gut.
    »Lange nicht gesehen«, sagt Reza unbeholfen und beugt sich vor, um sie auf beide Wangen zu küssen. Irrlichternde Gedanken an jenen anderen Kuss wärmen ihre Haut, und sie hofft, dass Reza nichts merkt. Sie versucht, die Erinnerungen zu verjagen, sagt sich, dass sie nutzlos sind, dass er sie im Stich gelassen und es keinen Zweck hat, aus alten Enttäuschungen neue Hoffnungen zu schöpfen.
    »Was hörst du dir zurzeit so an?«, fragt sie und muss einsehen, dass ihre Versuche, nichts zu empfinden, vergeblich sind. Rezas Miene hellt sich auf, und er nennt ein paar Lieder – nichts Neues.
    »Ich kann jetzt ›Fast Car‹ auf der
setar
spielen«, sagt Reza mit einem Grinsen. Sabas Brustkorb zieht sich zusammen, als sie an den Tag erinnert wird, an dem sie gemeinsam überrascht wurden. Sie möchte so gern hören, wie er den Song spielt. Er hat die Gabe, jede Melodie so klingen zu lassen, als wäre sie tausend Jahre alt.
    Im Handumdrehen haben sie den Inhalt ihrer Mäntel und Taschen ausgepackt – eine Flasche selbst gemachten Wein, drei Haschischjoints (ein Luxus im Vergleich zum Opium, was erkennen lässt, dass ihre Freunde die Zusammenkunft als ein besonderes Ereignis betrachten) und eine kleine Schachtel mit süßen
ghotab
-Teigtaschen.
    »Und?«, sagt Reza und legt eine erwartungsvolle Pause ein. Keines der Mädchen sagt etwas. Ponneh nimmt einen Zug und pustet den Rauch nach unten in den Bodenabfluss, der strategisch günstig zwischen ihren gekreuzten Beinen liegt. »Wie ist … das Eheleben?«
    »Sei nicht so blöd«, sagt Ponneh und zieht erneut an dem Joint. »Du kennst die Lage.«
    Reza sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Hast du vor, den ganz alleine zu rauchen?« Ponneh reicht ihm den Joint. Keiner von ihnen erwähnt Sabas Ehe noch einmal.
    »Ich werde Dr. Zohreh anrufen und nach meiner Mutter fragen«, sagt Saba.
    Ponneh horcht auf. »Ich hab mir überlegt, dass das vielleicht doch keine so gute Idee ist«, sagt sie. »Ich hätte dir das gar nicht sagen sollen.«
    »Wer ist Dr. Zohreh?«, fragt Reza.
    »Hör mal, Saba-dschan«, sagt Ponneh, »sie kann keine neuen Informationen haben. Falls ja, falls deine Mutter Kontakt zu ihr aufgenommen hätte, hätte sie ja wohl deinen Vater angerufen, oder? Ich hab dir schon alles erzählt, und es ist nicht gut, sich mit Sachen zu befassen, die deine Mutter vor Jahren mal gesagt hat.«
    »Nein«, entgegnet Saba. »Du hast mir
nicht
alles erzählt. Zum Beispiel, was genau diese Gruppe eigentlich macht.« Sie versucht, Dr. Zohreh in ihren Erinnerungen einzuordnen, und entsinnt sich vage, dass ihre Mutter manchmal tagelang verschwand, um sich mit Leuten zu treffen, die Saba nicht kannte. Sie denkt, dass Dr. Zohreh sie möglicherweise einmal im Krankenhaus besucht hat, und versucht, sich die Tage um jene Nacht am Strand ins Gedächtnis zu rufen. Aber wozu? Es ist, als würde man an eine kaputte Musikkassette oder einen verlorenen Einkaufszettel denken. Sie kennt jedes Wort der verschwundenen Information, aber sie hat das zwanghafte Bedürfnis, ständig nach etwas zu suchen, das sie

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