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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Regeln! Die Mädchen hier im Norden sind fleißige Arbeiterinnen und ganz und gar uneitel. Wenn Gilaki-Frauen über Schwächen sprechen, geht es meistens ums Essen. Aber dann erklärte Bahareh ihren Töchtern eines Tages, sie sollten nicht mehr Fahrrad fahren, was auf unseren hügeligen Straßen unerlässlich ist. Die meisten normalen Kinder fahren Rad, weil sie mitverdienen müssen. »Ihr seid junge Frauen«, sagte sie. »Ihr könntet euer Häutchen zerreißen.« Selbst mit ihren modernen Vorstellungen und ihrer westlichen Kleidung hielt Bahareh sich an die Tradition, wenn es um Sex und die Erziehung von Mädchen ging.
    »Welches Häutchen?«, fragte Saba, und ihre Mutter erwiderte, sie solle aufhören, so viel zu fragen. Anscheinend hatte irgendeine dumme Gans es in ihrer Hochzeitsnacht mit der Fahrradentschuldigung versucht, und die Hafezis wollten nicht, dass ihre Töchter Entschuldigungen hatten. Lachhaft. Mädchen werden immer irgendwelche Entschuldigungen haben. Ein Fuchs hat immer seinen Schwanz als Zeugen.
    Trotz all ihrer Medizinbücher klärte ihre Mutter sie nie über Männer und Frauen und derlei Dinge auf. An dem Tag, als Saba das erste Mal blutete, musste ich ihr erklären, dass sie nicht todkrank ist. Verstehen Sie, Bahareh hatte Angst, die zwei würden sich plötzlich für Jungen interessieren und den hochfliegenden westlichen Plänen ihrer Mutter den Rücken kehren. Ihre Zwillinge sollten für immer jung und unberührt bleiben, gelehrt, voller Pläne und ehrgeiziger Ziele und für immer ihr allein gehören.
    Und so wuchsen sie seltsam auf, fast ohne irgendwas über ihren eigenen Körper zu lernen. Ich frage mich, wie Saba jetzt, wo sie verheiratet ist, zurechtkommt. Wahrscheinlich hat der alte Mann nicht mehr viele Bedürfnisse, die weibliches Geschick oder Sorgfalt erfordern. Sie sehen also, die beiden passen gut zusammen.
    Eines Tages waren Bahareh und ich gemeinsam in dem privaten Hamam im Haus der Hafezis, und sie ließ sich mit der Fadenmethode die Körperhaare entfernen, was ihr lieber war als Enthaarungscremes, deren Geruch sie nicht ausstehen konnte. Wir hörten nicht, dass Saba im Haus nach uns suchte. Dann war sie auf einmal da. Bahareh setzte sich auf und bedeckte ihre Brust mit einem Handtuch, aber Saba hatte schon alles gesehen. Es war eine trockene Behandlung, daher gab es keinen Dampf oder Nebel, der alles verhüllt hätte. Stellen Sie sich vor, wie das auf das kleine Mädchen gewirkt haben muss. Versuchen Sie, es mit ihren unschuldigen Augen zu sehen. Über ihrer Mutter stand eine dicke Waschfrau – wie eine
dalak
in einem öffentlichen Hamam, die ihre Kundinnen mit einem groben Sacktuch wäscht. Sie trug ein
lungi
-Tuch um die Taille, und ihre Finger steckten in einem Netz aus Fäden.
    Sie beugte sich über Bahareh und zupfte ihr mit fleischigen Händen, um die der Faden gewickelt war, dessen eines Ende sie zwischen den Zähnen hielt, ein Haar nach dem anderen aus ihren intimsten Körperregionen. Das Netz, ein Wirrwarr aus unsichtbaren Fäden, bewegte sich fast wie von selbst und nahm die Finger der
dalak
und Stückchen von Bahareh mit. Die Frau starrte Saba an, ihre krummen Zähne hielten den Faden gepackt, und das arme Kind stürzte davon, so schnell seine Beine es trugen.

Kapitel Neun
    Spätes Frühjahr 1990
    S aba geht vom Lagerraum ihres Vaters zu Fuß nach Hause. Statt den Bus zu nehmen, genießt sie die Freiheit, die Bergpfade, die ins nächste Dorf führen, hinauf- und hinabzusteigen. Die Bäume, die noch vor wenigen Wochen in voller Blüte standen, sind jetzt üppig mit jungen Früchten behängt, doch Saba kann nur an Gefängnisse und
halva
und doppelte Grabsteine denken. Aufsässige Mütter mit Fotoapparaten, die in die westliche Leere hineinschreien. Rechtliche Dokumente, die Jungfräulichkeit und unwillige Ehemänner bezeugen. Jüngere Männer und die glückliche Erinnerung an einen nicht ganz unschuldigen Kuss auf die Wange. Sie fragt sich, ob Ponneh sich nach so etwas sehnt. Ihre älteste Schwester lebt noch, wird aber immer kränker. Khanom Alborz’ Regeln haben das arme Mädchen zu einem Relikt gemacht, einer Kuriosität im Dorf. Alle denken immer nur:
Wann stirbt sie und gibt ihren gefangenen Schwestern damit die Freiheit?
    Saba greift nach der Türklinke. Sie ruft nach Abbas. Das Haus scheint leer zu sein, und sie schlendert in die Küche, wirft ihre Tasche auf einen niedrigen Hocker am Fenster. Sie beugt sich über den Tisch, um einen prüfenden Blick auf die

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