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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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müde durch. »Es tut mir leid«, sagt er, »ich kann dir nicht geben, was du willst, Saba-dschan. Ich hab meine Theorien. Ich habe gesucht. Du hast ja gesehen, dass mein Brief zurückgekommen ist, und ich habe nie irgendwelche Auskünfte bekommen. Ich musste mich von ihr scheiden lassen, sonst hätte ich riskiert, dich und unser Leben zu verlieren.«
    Saba versucht, nicht vor Ungeduld nervös zu werden. »Aber was ist mit Amerika? Wann ist sie ins Gefängnis gekommen?«
    Ihr Vater schüttelt den Kopf. »Der Flughafen war ein einziges Chaos. Du bist weggelaufen, und ich musste dich wieder einfangen. Und als ich mich dann umgedreht hab, war sie verschwunden. Ich hab die
pasdars
gesehen, aber ich konnte deine Mutter nicht mehr finden. Tagelang hab ich alle möglichen Leute angerufen.« Er klingt schwach. Er richtet den Blick auf einen Punkt irgendwo hinter ihrer Schulter. »Später hat jemand behauptet, sie im Gefängnis gesehen zu haben, aber ich hab gesagt, das kann nicht sein. Dort kann sie nicht hingekommen sein, weil meine Saba gesehen hat, wie sie in das Flugzeug gestiegen ist, und dann muss es so gewesen sein. Es muss so gewesen sein, weil meine Tochter klug ist. Sie sieht alles, und sie lügt nicht.«
    Jahrelang hat Saba von dem Moment fantasiert, in dem ihr Vater zugibt, dass ihre Mutter in Amerika ist. Seine Worte, so stellte sie sich vor, würden die Planke sein, die sie über Wasser halten würde. Aber jetzt, als sie hört, dass ihre eigene nebulöse Wahrnehmung die Planke ihres Vaters war, verschwindet aller Halt unter ihr, und sie stürzt ins eisige Wasser. Wie verlässlich ist dieser einzelne Erinnerungsfetzen, den sie im Laufe der Jahre abgegriffen hat wie eine verblassende Fotografie? Für einen Augenblick wird das Bild der eleganten Dame in dem blauen Manteau mit dem grünen Kopftuch wieder ganz klar. Ihre Mutter tritt aus dem verschwommenen Terminal heraus und lächelt Saba an. Sie hält Mahtabs Hand umklammert und steigt leichtfüßig an den Menschen vorbei in das Flugzeug.
    Zig Fragen überschlagen sich in ihrem Kopf.
Hat Maman aus Amerika angerufen? Kann Mullah Ali helfen? Warum haben die
pasdars
sie verhaftet? Wenn sie das Flugzeug nie bestiegen hat, wo ist dann Mahtab?
    »Sie hat sich nie wieder bei mir gemeldet«, sagt ihr Vater mit schmerzlicher Endgültigkeit. Sie sieht, wie sich sein Adamsapfel bewegt, als er schwer schluckt, und sie denkt, dass ihre Mahtab-Geschichten ihn gequält haben, ihn daran gehindert haben, sein Leben neu zu ordnen, weil er Angst davor hat, sie zu zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren. Als sie etwas sagen will, kommt er ihr zuvor. »Genug«, sagt er mit einer Stimme, die angespannt und ausdruckslos klingt. Er durchquert den Lagerraum, um zu seinen Erinnerungen zurückzukehren, lässt Saba mit dem betäubenden Trost ihrer Musik und ihrer Filme allein. Sie ahnt nichts von dem Kummer, mit dem sie ihren unglücklichen Ehemann zurückgelassen hat, dem nach monatelanger Ehe endlich seine eigene Austauschbarkeit klar geworden ist.

Fadenfingrige
dalak
    Khanom Basir
    D ie Hafezis waren Büchernarren und seltsam; es gab so vieles, was sie ihren Töchtern nicht beibrachten. Einmal, als die Mädchen neun Jahre alt waren, wurden sie ausgeschimpft, weil sie sich die Beine bis zu den Knien rasiert und drei Haare aus der Lücke zwischen den Augenbrauen gezupft hatten. Drei Haare. Ich wollte Bahareh fragen, warum sie so streng wegen dieser Frauensachen war, aber Sie wissen ja, wie das ist – frag das Kamel, warum es rückwärts pinkelt, und es sagt: »Ich mach nun mal alles anders.« Bahareh dachte, sie bringt ihren Töchtern bei, bedeutend zu sein.
    Sie durften sich nirgendwo rasieren, nirgendwo parfümieren, nirgendwo Haare wegzupfen. Bahareh wollte nicht, dass sie zu schnell heranwuchsen oder zu Frauen wurden, bevor sie selbst dafür bereit war. Als einzige Pflege war ihnen gestattet, sich die Fußsohlen mit Bimsstein zu reiben – denn weiche Füße waren das Zeichen dafür, dass sie Töchter der Hafezis waren und keine Feldarbeiterinnen: bedeutend. Ihre Mutter inspizierte täglich ihre Beine, besonders nach der Revolution, um sich zu vergewissern, dass sie nicht gegen ihre Regeln verstießen.
Setze mit Strenge durch, dass sie sich an die kleinen Regeln halten, und bring ihnen bei, Kopf und Kragen zu riskieren, um die großen Gesetze zu brechen.
Welche Tollheit! Manchmal dachte ich, ich wäre der einzige normale Mensch im Umkreis von zwanzig Kilometern.
    Was für sinnlose

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