Ein Totenhemd fur einen Erzbischof
an der Tür des officium Posten. Er blickte ein wenig finster drein, denn es wunderte ihn, daß Fidelma seit Bruder Eanreds Tod keine Rücksprache mit ihm gehalten hatte. Außerdem war er verärgert, weil sie sich einfach weigerte, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Eanred war der Mörder von Wighard, Ronan Ragallach und Abt Puttoc. Allerdings hatte ihn Fidelmas Aussage, sie habe nur eine Vermutung, die sich bisher lediglich auf Indizien stütze, ein wenig besänftigt. Einen Beweis habe sie erst dann, wenn sie die verdächtige Person durch eine Zusammenfassung der Tatsachen zu einem Geständnis zwingen könne. Doch sie hatte sich geweigert, Eadulf den Namen dieser Person anzuvertrauen. Zwar war sie ebenfalls der Meinung, daß Wighards Mörder auch Ronan und Puttoc auf dem Gewissen hatte, aber sie beharrte weiterhin darauf, daß es sich bei dieser Person nicht um den toten Bruder Eanred handelte.
Als sie das officium betrat, hob Bischof Gelasius grüßend die Hand und schenkte ihr ein müdes Lächeln. Der nomenclator des Lateranpalasts wirkte erschöpft.
«Nun, Schwester», begann der Bischof und ließ die Hand wieder sinken, als er bemerkte, daß sie mehrere Schritte vor seinem Stuhl stehenblieb. Inzwischen hatte er sich fast daran gewöhnt, daß sie die römische Sitte, seinen Amtsring zu küssen, standhaft mißachtete. «Ich glaube, wir können uns die ausführlichen Erklärungen sparen, denn Eanreds Tod scheint all unsere Fragen zu beantworten. Also bleibt uns nur noch, Euch und Bruder Eadulf zu Eurem Scharfsinn zu beglückwünschen.»
Marinus, Sebbi und Ine murmelten zustimmend, während Wulfrun und Eafa keinerlei Regung zeigten.
Mit einem kühlen Lächeln sah Fidelma sich in der Runde um.
«Und uns bleibt die Aufgabe, Bischof Gelasius», sagte sie und wählte sorgfältig ihre Worte, «den Mord an Wighard aufzuklären, indem wir die Person benennen, die ihn getötet hat. Denn die gleiche Peron hat auch Bruder Ronan Ragallach und Abt Puttoc auf dem Gewissen.»
In Marinus’ officium herrschte auf einmal Anspannung, und alle Augen richteten sich aufmerksam auf Fidelma. Die Anwesenden blickten erstaunt und fragend drein. Hinter einem dieser Gesichter verbarg sich eine gequälte Seele, auf der schwer die Schuld lastete. Fidelma hoffte, daß ihre Schlußfolgerungen zutrafen, aber sie mußte den Sprung ins kalte Wasser wagen.
Schwester Fidelma stellte sich mit dem Rücken zum Kamin zwischen Gelasius und Marinus und faltete bescheiden die Hände.
Bischof Gelasius, der bestürzt schien, betrachtete sie schweigend, dann räusperte er sich. «Das verstehe ich nicht ganz, Schwester. Habt Ihr Bruder Eanred nicht auf frischer Tat ertappt? Ich habe Licinius so verstanden, daß Eanred sich noch über die Leiche seines Opfers beugte, als Ihr und Bruder Eanred in Puttocs Zimmer kamt. Oder hat es sich anders zugetragen?»
«Bitte schenkt mir ein wenig von Eurer kostbaren Zeit», sagte Fidelma, ohne auf seine Frage einzugehen. «Wighards Tod hat uns zahlreiche Rätsel aufgegeben. Und es ist vieles geschehen, das uns den Blick auf die Wirklichkeit verstellte. Das alles müssen wir nun prüfen und dabei die Spreu vom Weizen trennen.»
Hilfesuchend sah Gelasius den Superista an, doch Marinus verzog keine Miene. Offenbar wollte er sich seine Ungeduld nicht anmerken lassen. Mit einer Handbewegung, die zugleich auch seine Verwirrung zum Ausdruck brachte, forderte Gelasius die irische Nonne auf weiterzusprechen.
«Nun gut», sagte Fidelma. «Wie Ihr sicherlich bereits wißt, gab es im Grunde zwei Fälle zu lösen. Diese Tatsache hat zu Beginn unserer Ermittlungen Bruder Eadulf und mir viel Kopfzerbrechen bereitet, denn wie alle anderen auch hielten wir sie für zwei Gesichtspunkte ein und desselben Falles. In Wirklichkeit hatten sie jedoch nichts miteinander zu tun, sondern fielen nur zufällig zeitlich zusammen.»
Die anderen sahen sie verdutzt an. Fidelma begann zu erklären: «Der erste Fall war eindeutig. Wighard war ermordet worden. Von wem? Erst der zweite Fall machte den ersten so verworren. Wighard war auch bestohlen worden. Die kostbaren Geschenke, die er für Seine Heiligkeit mitgebracht hatte, und die Kelche aus den sächsischen Königreichen, die der Bischof von Rom segnen sollte, waren verschwunden. Wer war der Dieb? Zuerst gingen wir von einem einzigen Täter aus: Der Mörder hatte Wighard bestohlen – oder besser: Der Dieb hatte Wighard umgebracht. In Wirklichkeit brachte uns diese Annahme der Lösung kein
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