Ein Toter fuehrt Regie
– Seuchen – Erdbeben – Überschwemmungen – Kriege – Bergwerksunglücke – Taifune-Hurrikane – Lawinen – Bergrutsche – Vulkanausbrüche – Hungersnöte – Großbrände.
Mannhardt griff in das Fach Erdbeben und zog ein dickes Bündel mit Zeitungsausschnitten und Illustriertenfotos heraus. Da fehlte nichts, was in dieser Hinsicht jemals an Schrecklichem aufgezeichnet war, weder Quito (1797) mit 40000 Toten noch Kansu (1920) mit 180000 Toten oder Agadir (1960) mit 12000 Opfern.
Unter dieser Registratur des Grauens stand ein kleiner Schreibtisch mit einer verrosteten Lampe und einem Hohlstein, in dem Bleistifte und Kugelschreiber steckten. Rechts oben lagen, schön säuberlich aufeinander geschichtet, Zeitungsausschnitte, die Ossianowski noch nicht einsortiert hatte. 156 Tote bei Flugzeugabsturz – Düsenmaschine vom Typ Iljuschin 62 mit DDR-Urlaubern nahe Königswusterhausen zerschellt. Der nächste: Todestunnel bei Soissons ist eine Stätte des Grauens – Mehr als 100 Menschen starben I Herabstürzendes Gestein verursachte Zugkatastrophe.
Mannhardt fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wie oft in solchen Augenblicken der Erschütterung und der Ratlosigkeit dachte er in Stereotypen, die aus dem Schlager- und Chansonbereich stammten: Das ist meine Welt – und sonst gar nichts. Ein armer Kerl, dieser Otto-Wilhelm Ossianowski.
«Sieh mal!» Koch hatte inzwischen einen Leitz-Ordner voller eng betippter Schreibmaschinenseiten entdeckt. «Genau 942… Mit Register.» Er blätterte zurück, um nach dem Deckblatt zu sehen.
Da stand es:
DIE GRÖSSTEN KATASTROPHEN DER MENSCHHEIT VON O.-W. OSSIANOWSKI
«Er hat ein Buch drüber geschrieben…»
«Nie was von gehört», sagte Mannhardt, der recht viel las und sich zumindest an Hand von Prospekten über neue Autoren und Titel informierte.
Nach wenigen Sekunden hatte sich seine Vermutung bestätigt: niemand hatte das Manuskript haben wollen. In einem Aktendeckel lagen etwa zwanzig Schreiben, alle von mehr oder minder renommierten Verlagen, alle graphisch hervorragend aufgemacht und alle mit den gleichen Floskeln:… sehen im Augenblick leider keinen Platz in unserem Verlagsprogramm… Wir freuen uns, daß Sie uns einen Einblick in Ihre Arbeit gegeben haben, aber… Wir haben Ihre Dokumentation mit großem Interesse gelesen, müssen Ihnen aber leider mitteilen…
Sein Lebenswerk.
Und niemand hatte Interesse daran gehabt.
Mannhardt, dem erst neulich ein kleiner Beitrag zurückgeschickt worden war, den er für die Fachzeitschrift Kriminalistik geschrieben hatte, konnte verstehen, was in Ossianowski vorgegangen war. Jahrelange Arbeit, jahrelanges Hoffen – alles umsonst. Kein Schriftstellerruhm – noch nicht einmal ein Achtungserfolg. Der verzweifelte Versuch, seiner elenden Existenz zu entfliehen war gescheitert. Aus und vorbei. Hatte er jetzt die Konsequenzen gezogen?
Mannhardt horchte nach draußen. «Ich glaube, sie haben die andere Tür aufbekommen…»
Der zweite Kellerraum war wesentlich größer als der erste. Er enthielt auf der linken Seite ein wohlbestücktes Laboratorium mit Reagenzgläsern, Glaskolben, Bunsenbrennern und vielfarbigen Chemikalien, aber auch einige elektrische Geräte – Batterien, Voltmeter, Transformatoren und ähnliches. Mannhardt fühlte sich unbehaglich, fühlte sich an den Physik- und den Chemieraum seiner alten Schule erinnert. Die Fünfen, die er dort unter den hämischen Bemerkungen der Studienräte eingesteckt hatte, schmerzten ihn heute noch. Da war er schon wieder bei diesem verfluchten Klassentreffen!
«Mensch, guck dir das mal an!» Koch riß ihn geradezu herum.
Mannhardt erkannte an der anderen Wand eine weitere Modellanlage, aber ganz offensichtlich keine Eisenbahn, sondern… Er stutzte. Über dem Ganzen hing ein Transparent mit der Aufschrift Owis S ELBSTMORD -C ENTER . Ihn fröstelte, er spürte einen Anfall von Klaustrophobie. Atemnot. Nur der eine Gedanke: Raus hier!
Aber er biß die Zähne zusammen, schluckte mehrmals und atmete tief durch. Dann folgte er Koch, der schon an das Modell herangetreten war. Was er sah, war wahrhaft einmalig.
Die längliche Spanplatte, die vielleicht drei mal zwei Meter umfassen mochte, war, was die handwerkliche Fertigkeit betraf, ein kleines Kunstwerk. Figuren, Häuser, Bäume, Autos, Züge – auch hier alles maßstabgerecht. Auch hier stimmte alles bis ins letzte Detail. Ossianowski mußte jahrelang daran gebaut haben. Er hatte für denjenigen, der
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