Ein toter Lehrer / Roman
sie. Sie warf sie in den Müll und schenkte sich stattdessen ein Whiskyglas voll Rotwein ein.
Im Wohnzimmer öffnete sie das Fenster. Es war windstill, und draußen herrschte dieselbe Temperatur wie drinnen. Irgendwo hatte sie einen Ventilator, aber wo auch immer der steckte, er war sowieso kaputt. Ihr fiel der Fön ein. Auf Kaltstufe hätte er ungefähr denselben Effekt.
Das Wohnzimmer war der einzige Raum in ihrer Wohnung, der ihr gefiel. Die Küche war winzig, das Bad voller Schimmel und das Schlafzimmer dunkel und unaufgeräumt. Im Wohnzimmer war es den ganzen Tag hell, und es war gemütlich. Auf dem Boden lag ein kleiner Teppich, es gab einen Fernseher, und man hatte einen schönen Ausblick. Wenn sich Lucia aus dem großen Schiebefenster lehnte, konnte sie sogar ein Stück des Stadtparks sehen. Das Sofa hatte unter dem Überwurf einen giftgrünen Bezug, aber das Gefühl beim Daraufsetzen war perfekt – nicht wie eine richtige Umarmung, sondern eher so, als würde einem ein Arm um die Schulter gelegt. Obwohl Lucia manchmal, an Tagen wie diesen zum Beispiel, nichts gegen eine richtige Umarmung gehabt hätte.
Im Wohnzimmer standen ihre Bücher. Sie las viel. Hauptsächlich Romane, aber auch Geschichtsbücher, wenn sie Inspector Rebus einmal satthatte. Sie füllten die Regale, die ihr der Vermieter überlassen hatte, und ihr Ikea-Bücherregal. Sie saß gern da und ließ den Blick über die Buchrücken schweifen. Es gefiel ihr, dass sie ein Buch erkennen konnte, auch wenn sie zu weit weg war, um den Titel lesen zu können. Die angeschlagenen Ecken, die Knicke in den Einbänden – sie waren Zeichen von Vertrautheit. Sie waren ein Trost.
An diesem Abend las sie nicht. Das Buch, das sie angefangen hatte, lag noch da, wo sie es am Vorabend des Amoklaufs abgelegt hatte. Sie hatte seinen Rücken geknickt und es mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf den Boden gelegt, als würde es durch eine solche Behandlung gefügiger, zugänglicher und weniger entschlossen, ein harter Brocken sein zu wollen. Es handelte von Stalingrad: von der Schlacht, der Belagerung. Eine entspannende Lektüre würde es nie werden. Das Problem war, dass sie schon zu viel gelesen hatte, um es wieder wegzulegen, aber noch zu wenig, um die Seiten bis zum Ende zu zählen. Sie war schon auf Seite 143 angelangt, aber es hatte noch nicht einmal zu schneien begonnen.
Sie nahm die Fernbedienung, legte sie dann aber wieder beiseite. Sie sah regelmäßig das Fernsehprogramm durch, hatte aber nie Lust, sich irgendetwas anzusehen. Irgendwer hatte ihr mal geraten, sich Pay- TV anzuschaffen, oder wenigstens kostenloses Digitalfernsehen, und sie hatte zugestimmt, dass das eine gute Idee wäre, aber darum gekümmert hatte sie sich trotzdem nicht.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Sie kniete sich auf die Fensterbank, stützte das Kinn in die Hände und sah hinaus auf die Grünfläche, dann stand sie wieder auf und schenkte sich Wein nach. Schließlich nahm sie die Unterlagen des Falls vom Schreibtisch und setzte sich damit zurück aufs Sofa. Sie zog ein Blatt aus dem Stapel, die Abschrift einer Zeugenbefragung, von einem der Kinder. Es war keine ihrer eigenen Befragungen, A DC hatte sie durchgeführt. Sie hatte das Protokoll schon einmal gelesen, und obwohl sie sich nicht mehr daran erinnerte, wusste sie, dass nichts drinstand. Nichts. Von Schmerz war die Rede, von Trauer und Schock und noch mehr Schmerz, aber aus ihrer Sicht, aus ihrer professionellen Sicht, war das nichts.
Sie nahm noch einmal die Fernbedienung zur Hand und schaltete den Fernseher diesmal ein. Sie stellte den Ton ab und starrte auf die Bilder, aber ihre Gedanken wanderten zu Szajkowski, zu den Kindern und den umgestoßenen Stühlen in der Aula. Dann zwang sie sich, an etwas anderes zu denken. Eine ganze Weile kam ihr nichts in den Sinn, bis ihr schließlich einfiel, was sie ihrem Chef über ihre Wochenendpläne erzählt hatte, und sie fragte sich, ob er ihr wohl geglaubt hatte.
W ir konnten nicht besonders gut miteinander. Na und? Das war kein Geheimnis. Ist ja kein Verbrechen. Wie’s aussieht, hab ich ihn ja ziemlich gut eingeschätzt, stimmt’s?
Sport, wenn Sie schon fragen. Ich habe an der Loughborough University Sport- und Freizeitwissenschaften studiert, der beste Studiengang dieser Art in ganz England. Es ist verdammt schwer, da reinzukommen. Und noch schwerer, den Abschluss zu schaffen. Das Schwerste, was ich je gemacht hab, dabei war ich mein Leben lang ein Kämpfer.
Weitere Kostenlose Bücher