Ein toter Lehrer / Roman
Fingern getropft, als die Lehrerin sie hinausgetragen hatte. An einigen Stellen waren die Tropfen verschmiert, wie von einem Zeh, einer Ferse oder dem Knie von jemandem, der gestolpert war.
Er war nicht stehen geblieben, da war Lucia sich sicher, und so ging sie weiter, nicht direkt durch das Blut, aber auch nicht im großen Bogen darum herum.
Die Aula lag fast am anderen Ende des Gebäudes. Auf dem Weg vom Lehrerzimmer bis dorthin hätte er genügend Zeit gehabt nachzudenken, es sich anders zu überlegen und dann wieder anders. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er nicht nachgedacht hatte. Er hatte sich darauf konzentriert, nicht nachzudenken.
Der Weg durch den Flur führte sie an Klassenzimmern mit offenen Türen und ein paar Treppenaufgängen vorbei. Sie warf einen Blick in jede Tür und jede Treppenflucht und war sich sicher, dass er dasselbe getan hatte. Sie dachte an die Gänge ihrer eigenen Schule, in denen Schülerarbeiten gehangen hatten: Erdkundeprojekte, Plakate von Wohltätigkeitsaktionen oder Fotos vom großen Musical am Schuljahresende. Die Wände, an denen sie jetzt vorüberging, waren kahl und grau wie Bimsstein. Nur die Farbe, mit der der Hausmeister die Graffiti übertüncht hatte, hob sich etwas dunkler davon ab. Hinter jeder zweiten Tür war ein Alarmknopf, und am Ende des Flurs, etwas erhöht in einem Drahtgehäuse, hing die Alarmanlage. Sonst nichts.
Die Türen zur Aula waren mit Absperrband überklebt und abgeschlossen. Lucia nahm einen Schlüssel aus ihrer Tasche, drehte ihn im Schloss und öffnete eine der Türen. Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging hinein.
Es roch nach Turnschuhen, nach Gummi und Schweiß von Hunderten scharrender Füße. Sie wusste, dass die Aula gleichzeitig als Turnhalle genutzt wurde. An den Wänden standen Sprossenwände, zusammengeklappt und angekettet.
Sie schloss die Tür hinter sich, genau wie er es getan hatte. Er hatte sicher nach vorn geschaut, auf die Bühne und denjenigen, der gerade sprach. Den Direktor. Travis. Lucias Blick jedoch blieb an dem Gerät ihr gegenüber hängen, an den Seilen, die die Sprossenreihe zerschnitten. Eines der Opfer hatte sich daran hochgezogen, mit Hilfe eines Seils versucht, den drängenden Leibern zu entkommen. An dem Knoten am unteren Ende und in bestimmten Abständen klebte Blut, mehrere Fuß hoch. Auf Kopfhöhe endeten die Blutspuren.
Die Aula sah noch genauso aus, wie sie die ganze Woche ausgesehen hatte. Nichts war verändert worden, außer vielleicht durch die zögerlichen Schritte eines Fotografen. Es muss schwer gewesen sein, nicht gegen irgendetwas zu stoßen. Es gab weder einen freien Durchgang zur Bühne noch zur gegenüberliegenden Seite der Aula. Von der hinteren Wand bis vor zum Podium lagen Stühle, auf der Lehne, auf der Seite, kreuz und quer, nur aufrecht stand keiner mehr. Viele davon waren noch miteinander verbunden, so dass ein umgestoßener Stuhl oft die ganze Reihe umgerissen und in eine Barriere verwandelt hatte und die Stuhlbeine in Stacheln. Lucia musste an ein Foto von Verdun denken, ein Bild der Felder und Barrikaden zwischen den Schützengräben. Sie sah Kinder vor sich, die Augen randvoll mit Angst, die stolpern, hängen bleiben und von den Nachfolgenden überrannt werden. Sie stellte sich den Aufprall eines aufragenden Stuhlbeins gegen einen Bauch, eine Wange oder eine Schläfe vor.
Auf und unter den Stühlen lagen Pullover, ein paar Bücher, der Inhalt von Kinderhosentaschen. Hier ein Schlüsselbund an einer Kette, befestigt an einer Gürtelschlaufe, die von irgendeiner Hose abgerissen war. Ein schwarzer iPod, die Kopfhörer noch angeschlossen und das Display gesprungen. Handys. Und Schuhe. Eine erstaunliche Menge von Schuhen. Hauptsächlich Mädchenschuhe, aber auch Turnschuhe und Stiefel. An einer Seite lag ein einzelner Herrenschuh, Größe 45 oder 46. Eine Brille, die Gläser unversehrt, aber mit einem gebrochenen Bügel. Ein weißes Taschentuch.
Sie versuchte, den Zustand der Aula nicht zu beachten und sie sich so vorzustellen, wie er sie gesehen hatte: bis zum letzten Platz besetzt, die Kinder ausnahmsweise einmal still angesichts des Anlasses, und manche weinen und versuchen, ihre Tränen zu unterdrücken. Die Lehrer sitzen in zwei Reihen links und rechts neben dem Direktor, die Kiefer angespannt, den Blick zu Boden oder starr auf den Direktor gerichtet. Travis steht mit durchgestreckten Armen am Rednerpult, die Hände ganz außen an den Ecken, sein Blick fordert
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