Ein toter Lehrer / Roman
das Erbrechen gewesen war, rollten sie ihr jetzt unaufhaltsam über die Wangen. Lucia legte den Kopf in die Armbeuge. Dann räusperte sie sich und spuckte noch einmal aus. Sie merkte, dass sie immer noch die Zigarettenschachtel in der Hand hielt. Sie war zerknautscht; als sich ihr Magen verkrampft hatte, hatte sie sie reflexartig zusammengedrückt. Sie warf sie auf die Bank, in die Banane, und stand auf.
Lucia wanderte eine Weile ziellos umher. Als sie merkte, dass sie auf die Schule zusteuerte, bog sie links ab und dann noch einmal, und schließlich stand sie am Finsbury Park. Es war ein Werktag, noch nicht einmal Mittagszeit, und die Sonne war kaum zu sehen, und trotzdem war der Rasen übersät mit Decken, Körpern und Grills, fix und fertig zum Anzünden. Lucia suchte sich einen Platz etwas abseits der Menge und legte sich hin. Sie hatte einen Geschmack von Teer und Erbrochenem im Mund. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie eine ganze Nacht mit offenem Mund geschlafen. Sie hatte quälenden Durst, aber jetzt, da sie sich einmal hingelegt hatte, erfüllte sie der Gedanke, wieder aufzustehen und Wasser zu suchen, mit Trägheit. Sie war in London, und es war Sommer, überlegte Lucia; irgendwann musste es regnen. Wenn es so weit war, würde sie immer noch hier liegen. Dann würde sie den Mund aufmachen, das Gesicht zum Himmel halten und die Regentropfen auf sich prasseln lassen.
Aber so lange konnte sie dann doch nicht warten. Sie stand auf, ließ einen kurzen Moment der Benommenheit vergehen und ging dann auf die Parktore zu. In einem kleinen Supermarkt stellte sie sich in die Schlange, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Noch im Laden trank sie sie halb leer und bereute es sofort. Das kalte, fast noch gefrorene Wasser ließ ihren Kopf hämmern und ihren Magen schmerzen. Sie merkte, dass sie Hunger hatte. Seit gestern Abend hatte sie nichts gegessen, und jetzt war es schon gleich … Wie spät war es eigentlich? Sie fragte einen Passanten. Vier. Kurz nach vier. Sie sollte nach Hause gehen, sagte sie sich. Nur dass sie nicht nach Hause wollte. Jedenfalls nicht in ihre Wohnung. Stattdessen wanderte sie weiter umher und kam zu einem Café, das sie gut kannte. Sie setzte sich ans Fenster, aß lustlos ein Stück Schokoladenkuchen und starrte auf das Haus gegenüber.
Sie trank Tee. Drei Tassen, bis das Licht draußen verblasste und der Besitzer des Cafés um sie herum zu fegen begann. Als er Feierabend machte, ging auch Lucia. Doch sie zögerte, kauerte sich in den Eingang, ging vor dem Block auf und ab und lehnte sich an den benachbarten Büroblock, ein Bein an die Wand gestützt. Die ganze Zeit beobachtete sie das Haus gegenüber. Im dritten Stock brannte noch kein Licht, und die Vorhänge waren noch nicht zugezogen. An der Eingangstür war niemand, und auch im Treppenhaus rührte sich nichts. Lucia wartete, blickte hierhin und dorthin und dann wieder zu dem Haus gegenüber.
Es war spät, als er schließlich kam. Zuerst war sie nicht sicher, ob er es wirklich war, aber als er seinen Schlüsselbund fallen ließ und sich fluchend danach bückte, wusste sie Bescheid. Bevor sie noch einmal nachdenken konnte, ging sie über die Straße. Zwischen zwei geparkten Autos blieb sie stehen, kurz vor dem Bordstein. »Hallo«, sagte sie, aber es war nur ein Krächzen. Sie sagte es noch einmal lauter, und die Gestalt vor ihr drehte sich um und trat aus dem Schatten auf sie zu.
E s wird alles in Vergessenheit geraten. Glauben Sie nicht? Niemand wird sich daran erinnern. Eigentlich interessiert es niemanden. Selbst jetzt – die Zeitungen sind voll davon, aber warum kaufen die Leute sie denn? Aus demselben Grund, aus dem sie Filme gucken oder Romane lesen. Es ist Unterhaltung. Nichts als Unterhaltung. Sie lesen die Geschichten, halten den Atem an und zerreißen sich das Maul – Hast du schon gehört? Stell dir bloß vor! –, aber es ist für sie nicht die Wirklichkeit. Nicht die wirkliche Wirklichkeit. Die Leute sehen sich die Bilder an, Bilder von ihm, und es läuft ihnen kalt den Rücken runter. »Guck dir seine Augen an, das sieht man schon an den Augen«, sagen sie, und dann blättern sie um und lesen den nächsten Artikel, über eine Fuchsjagd oder Steuererhöhungen oder irgendeinen Promi, der Drogen nimmt. Würden sie sich wirklich was daraus machen, würden sie nicht einfach so umblättern. Sie könnten es nicht. Wenn sich das, was in den Zeitungen steht, echt anfühlen würde, würden sie sie gar nicht erst kaufen.
Weitere Kostenlose Bücher