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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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Sie würden jede Nacht wach liegen, wie ich. Sie würden weinen, wie ich. Verzweifeln. Verzweifeln würden sie.
    Selbst Sie. Warum sind Sie hier? Im Grunde ist es Ihnen doch auch egal. Sie denken vielleicht, es würde Sie interessieren, aber das ist nicht wahr. Sie sind hier, weil es Ihr Job ist. Wären Sie hier, wenn es nicht Ihr Job wäre? Und Ihre Fragen. Warum stellen Sie mir die? Und das, was ich Ihnen sage – wie soll das etwas an der Sache ändern? Gar nichts wird es ändern. Felix ist tot. Er wurde ermordet. Mein Sohn lebt nicht mehr, und bald bin ich der einzige Mensch auf Erden, der noch weiß, dass er je gelebt hat. Er ist sinnlos gestorben, Detective. So sagt man doch. Sinnlos, und das ist das Schwerste für mich.
    Wissen Sie, was Felix überlebt hat? Nein, wissen Sie nicht. Woher auch. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Felix wusste es ja selbst nicht. Er war noch nicht mal ein Baby und dem Tod schon so nahe wie ich jetzt Ihnen, hier in diesem Zimmer. Kinder starben, die seine Freunde geworden wären. Seine Verwandten starben: seine Tante, meine Schwester, sein Onkel, mein Bruder, seine Großmutter und sein Großvater. Sein Vater starb auch; er wusste noch nicht mal, dass er Vater geworden ist. Sie sind sinnlos gestorben, genau wie Felix. Sie sind gestorben, weil ihnen jemand gesagt hat, glaube an diesen Gott, Er wird dich retten. Aber es war der falsche Gott. Jemand anders, jemand mit einer Waffe und bewaffneten Freunden, hat entschieden, dass es der falsche ist. Und der richtige Gott sei zornig, haben sie gesagt. Der richtige Gott wolle Rache. Der richtige Gott war ein Teufel, wie sich herausstellte.
    Aber Felix hat überlebt. Ich habe überlebt, also hat Felix überlebt. Wir kamen nach England. Nach London. In London sterben nur die Alten, hat man uns gesagt. Nur die Kranken, und normalerweise nicht mal die. Niemand stirbt grundlos. Niemand stirbt für einen Gott, den es nicht gibt. Es gibt keine Waffen, hat man uns gesagt. Nicht mal die Polizei trägt Waffen. Erschossen werden, in London. Ha! Da müsste schon eine Kugel aus Afrika rüberkommen. Deshalb haben wir uns sicher gefühlt. Wir dachten, wir wären gerettet. Wir dachten, England wäre unsere Rettung.
    Kellner wollte er werden. In einem Restaurant. Das war sein Traum. Ich habe gelacht, als er es mir erzählt hat, und er hat gefragt, warum lachst du? Da habe ich aufgehört. Felix, habe ich gesagt, du wirst Kellner. Wenn du Kellner werden willst, wirst du es. Du könntest genauso gut Arzt werden, denk mal darüber nach, aber wenn du wirklich Kellner werden willst, dann liebe ich dich kein bisschen weniger. Er meinte, er würde darüber nachdenken. Kellner kriegen Trinkgeld, Mama, hat er gesagt. Ärzte nicht, oder? Da musste ich ihm zustimmen. Nein, Felix, Ärzte kriegen kein Trinkgeld. Und er sagte, gestern, als ich zum Fenster rausgeguckt hab, hat ein Mann einer Kellnerin einen Geldschein gegeben. Er hat ihn zusammengefaltet und ihr in die Tasche gesteckt, hier rein, in die Tasche von ihrer Bluse. Alles in allem will ich lieber Kellner werden, glaube ich. Aber ich denk mal darüber nach. Wenn du willst, denk ich drüber nach. Das hat er gesagt.
    Er war fleißig. Er hat es versucht, aber seine Phantasie kam ihm immer wieder dazwischen. Er war ein Träumer. Er hat dem Lehrer zugehört und wusste später nicht mehr, ab wann er mit den Gedanken abgeschweift war. Er hat in ein Buch geguckt und kam zu einem Wort, das ihn weggetragen hat, irgendwohin, nur nicht zum Ende des Satzes. Das hat er mir erzählt. Die Lehrer haben mit ihm geschimpft, und dann mit mir, und als ich Felix darauf angesprochen habe, hat er mir das erzählt. Was soll ich machen, Mama?, hat er gesagt. Ich will ja lernen. Ich weiß, wie wichtig das ist. Aber mir geht immer so viel durch den Kopf. Ich versuche ja, das Nachdenken auf später zu verschieben, aber manchmal kann ich einfach nichts machen. Es kommt einfach und schlürft mich weg, als hätte es Durst und ich wäre ein Glas Wasser. Was soll ich denn machen?
    Ich konnte ihm nicht böse sein. Wie hätte ich ihm böse sein können? Ich glaube, er wäre nicht Kellner geworden, Detective. Auch nicht Arzt. Er hätte Geschichten geschrieben oder Lieder gesungen oder Bilder gemalt. Er hätte irgendetwas Schönes gemacht. Er selbst war schön, und alles, was er tat, auch, aber dann hätten es auch die anderen gesehen, genau wie ich. Dann hätten sie es auch gesehen.
    Weil sie es nicht gesehen haben. Vor seinem Tod haben sie es nicht

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