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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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gesehen. Felix war nicht besonders beliebt. Sicher auch, weil er so verträumt war, aber es lag wohl hauptsächlich daran, dass er aus Afrika kam. Er war Brite, Engländer, Londoner, aber er kam aus Afrika. Deshalb haben sich die Lehrer über seine Einstellung beschwert, und die anderen Kinder über seine Hautfarbe. Sogar die schwarzen Kinder, Detective. Besonders die schwarzen. Felix ist zu schwarz, haben sie gesagt. Afrika haben sie ihn genannt, als wäre das Wort an sich schon eine Beleidigung. Manchmal haben sie ihn auch verprügelt. Verprügelt haben sie ihn, und dabei haben sie gelacht und gesagt, wenn es so sehr weh tut, warum kriegst du dann keine blauen Flecken, warum sieht man nie was?
    In der Schule, außerhalb, vorher, nachher. Felix hat bloß mit den Schultern gezuckt. Mach dir keine Sorgen, Mutter, hat er immer gesagt. Nicht weinen. Es war meine Schuld, es muss meine Schuld gewesen sein. Nicht weinen. Und ich habe mir in solchen Momenten immer gewünscht, dass sein Vater noch am Leben wäre, und dass er hier wäre, bei uns. Denn dazu ist ein Vater doch da. Um seine Familie zu beschützen. Ich habe es versucht, aber ich konnte und konnte und konnte es nicht. Ich habe ihn zur Schule gebracht und wieder abgeholt, aber am Ende sind wir dann beide gerannt. Ich habe mit anderen Eltern gesprochen, und Felix musste mit ansehen, wie seine Mutter beschimpft wurde, bespuckt und ausgelacht, und er hat genau die Dinge gehört, die er nicht hören sollte: was die Leute von uns dachten, was sie glaubten, wo wir herkamen, und was wir ihrer Meinung nach wert waren. Ich habe mit der Schule geredet, und alle – die Lehrer, der Direktor –, alle haben sie genickt und ein besorgtes Gesicht gemacht und gesagt: Jungs raufen sich eben, Mrs. Abe, so ist das nun mal in diesem Land. In diesem Land. Als wäre es ihr Land und nicht meins, nicht das Land meines Sohnes. So ist das nun mal. Als könnte man nichts ändern, als wäre alles entschieden und in Stein gemeißelt. Ich kenne solche Sprüche, Detective. Wo ich herkomme, wirken sie wie Medizin. Sie machen es leichter, das Leid zu ertragen. Aber nicht hier. Nicht in dieser Stadt.
    Sie sehen, ich erwarte nichts. Ich habe gelernt, nichts zu erwarten. Sie wirken nett. Freundlich. Aber ich glaube, Sie wissen, wie das hier enden wird. Es hat schon geendet. Nicht für mich, für mich wird es nie enden, aber für alle anderen war es schon vorbei, als es begann. Felix hat gelebt, und jetzt ist er tot, und die Welt vergisst schon seinen Namen. Sagen Sie mir: Werden Sie sich an seinen Namen erinnern? In einem Jahr? In einem Monat? In einer Woche? Wissen Sie dann noch seinen Namen?

E ine Hand strich ihr über die Wange, und sie zuckte zusammen.
    »Lulu.«
    Sie drehte den Kopf weg.
    »Lulu. Wach auf.«
    Die Hand war jetzt an ihrer Schulter.
    »Lulu, ich muss los.«
    Diesmal drang der Name zu ihr durch, mit dem er sie anredete. Sie hob den Kopf, nur ein Stückchen. »Nenn mich nicht so.« Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht. Das Kissen zog sie hinab, und die Decke hielt sie dort fest.
    Schritte, das Klirren eines Schlüsselbunds. Das gedämpfte Gluckern des Wasserhahns, dann wieder Schritte, dicht neben ihr. Sie drehte sich auf den Rücken und schlug mit Mühe die Augen auf. Dann zog sie die Hände unter der Decke hervor und rieb mit den Fingerspitzen über ihren Nasenrücken.
    »Du schnarchst, Lulu. Du schnarchst immer noch.«
    »Ich schnarche nicht«, sagte Lucia. Sie setzte sich auf, so dass nur noch ihre Beine unter der Decke waren. »Und nenn mich nicht so.«
    David zog sein Jackett an, hob kurz die Schultern und richtete die Ärmelaufschläge. »Wie denn?« Er sah sich um. »Wo ist mein Handy? Hast du irgendwo mein Handy gesehen?«
    »Wie du mich gerade genannt hast. Du sollst mich nicht so nennen.«
    »Lulu? So hab ich dich doch immer genannt.«
    »Ich weiß. Aber jetzt nennt mich jemand anders so. Ich glaube, er hat dich mal gehört.«
    »Wer hat mich gehört? Wann denn? Wo ist bloß das blöde Handy, verdammt?«
    Lucias Nokia lag auf dem Couchtisch. Sie nahm es und wählte die Nummer, die sie immer noch auswendig kannte. »Jemand, an den ich lieber nicht erinnert werden will«, sagte sie und hielt das Handy ans Ohr. Sie hörte das Freizeichen, und kaum eine Sekunde darauf ertönte gedämpft die Soulmelodie, die David als Klingelton eingestellt hatte. Sie kam aus der Tasche seines Jacketts.
    »Dieses Lied«, sagte Lucia. »Das ist ja unser

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