Ein Toter zu wenig
Angebot.
»Parker, mein Herzblatt, du bist die Zierde des Scotland Yard. Ich sehe dich an, und Sugg wird zu einem Mythos, einem Fabeltier, einem Hanswurst, in einer Mondnacht gezeugt von einem phantasievollen Dichterhirn. Sugg ist zu vollkommen, um wahr zu sein. Was fängt er übrigens mit der Leiche an?«
»Sugg sagt«, erwiderte Parker knapp und klar, »daß der Mann an einem Schlag in den Nacken gestorben ist. Das hat ihm der Arzt gesagt. Er meint, er sei schon ein bis zwei Tage tot. Auch das hat ihm der Arzt gesagt. Er sagt, es sei die Leiche eines etwa fünfzigjährigen, wohlhabenden Juden. Das hätte ihm jeder sagen können. Er findet die Annahme lächerlich, daß die Leiche durchs Badezimmerfenster hereingekommen sei, ohne daß einer etwas davon gewußt hätte. Er sagt, der Mann sei wahrscheinlich lebend zur Tür hereingekommen und im Haus ermordet worden. Er hat das Mädchen verhaftet, weil sie klein und schwächlich ist und gar nicht in der Lage wäre, einen großen, kräftigen Mann mit einem Schürhaken zu erschlagen. Er würde Thipps verhaften, aber Thipps war den ganzen gestrigen und vorgestrigen Tag in Manchester und ist erst spätabends zurückgekommen - er wollte ihn trotzdem verhaften, bis ich ihn daran erinnerte, daß der kleine Thipps den Mann nicht erst nach gestern abend halb elf erschlagen haben kann, wenn dieser schon ein bis zwei Tage tot ist. Er wird ihn aber morgen noch als Mitwisser verhaften - und die alte Dame mit dem Strickzeug womöglich auch, mich würd's nicht wundern.«
»Da bin ich aber froh, daß unser Kleiner so ein gutes Alibi hat«, meinte Lord Peter. »Wenn man sich allerdings zu sehr auf Leichenblässe, Leichenstarre und sonstige Leichendinge verläßt, muß man damit rechnen, daß ein ungläubiger Anklagevertreter einem querbeet durch das ganze medizinische Gutachten trampelt. Erinnerst du dich an Impey Biggs' Verteidigungsrede in dem Teestubenfall von Chelsea? Sechs Medizinmänner widersprechen einander lustig in ihren Gutachten, und Freund Impey zitiert aus Glaister und Dixon Mann anomale Fälle, bis den Geschworenen Hören und Sehen vergeht. >Sind Sie in der Lage, zu beschwören, Dr. Kieferzange, daß der Beginn des rigor mortis die Todeszeit ohne die Möglichkeit eines Irrtums belegt?< >Soweit meine Erfahrung reicht, in der Mehrzahl der Fälle ja<, antwortet der Doktor pikiert. >Ah!< ruft Biggs, >aber das ist hier ein Strafprozeß, keine Parlamentswahl, Doktor. Ohne Minderheitsvotum kommen wir hier nicht weiter. Das Gesetz, Dr. Kieferzange, achtet das Recht der Minderheit, ob lebend oder tot.< Irgendein Trottel lacht, und Biggs wirft sich in die Brust und macht auf eindrucksvoll. >Meine Herren, diese Angelegenheit ist nicht zum Lachen. Bei meinem Mandanten - einem aufrechten, ehrbaren Bürger - geht es hier um Leben oder Tod - sein Leben, meine Herren - und es ist die Aufgabe der Anklagevertretung, ihm sein Verschulden - wenn sie das kann - ohne den Schatten eines Zweifels nachzuweisen. Also, Dr. Kieferzange, ich frage Sie noch einmal, können Sie feierlich und ohne den Schatten eines Zweifels - jeden möglichen, denkbaren Schatten eines Zweifels - beschwören, daß die unglückliche Frau nicht früher und nicht später als am Donnerstagabend zu Tode gekommen ist? Wahrscheinlich? Meine Herren, wir sind keine Jesuiten, wir sind aufrechte, ehrliche Engländer. Man kann von britischen Geschworenen nicht verlangen, daß sie aufgrund einer bloßen Wahrscheinlichkeit einen Menschen zum Tode verurteilen.< Beifälliges Gemurmel.«
»Biggs' Mandant war trotzdem schuldig«, entgegnete Parker.
»Natürlich. Aber er wurde trotzdem freigesprochen, und was du da eben gesagt hast, ist üble Nachrede.« Wimsey ging ans Bücherregal und nahm ein gerichtsmedizinisches Werk herunter. » >Rigor mortis kann nur sehr allgemein festgestellt werden - viele Faktoren beeinflussen das Ergebnis.< Ganz schön vorsichtig der Kerl, durchschnittlich aber setzt die Starre nach fünf bis sechs Stunden an Hals und Unterkiefer ein< - hm - >ist aller Wahrscheinlichkeit nach in den meisten Fällen nach sechsunddreißig Stunden wieder abgeklungen. Unter gewissen Umständen kann sie jedoch ungewöhnlich früh beginnen oder ungewöhnlich lange anhalten.< Sehr hilfreich, nicht wahr, Parker? >Brown-Sèquard hat festgestellt... dreieinhalb Minuten nach Eintritt des Todes... in bestimmten Fällen erst sechzehn Stunden nach Eintritt des Todes... Dauer danach bis zu einundzwanzig Tagen.< Großer
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