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Ein Toter zu wenig

Ein Toter zu wenig

Titel: Ein Toter zu wenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Leigh Sayers
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Haarschnitt und Kneifer die Rede war, ziemlich irreführend, doch andererseits hatte die Polizei die Zahl der fehlenden Backenzähne, Größe, Hautfarbe und andere Daten korrekt angegeben, auch die vermutliche Todeszeit. Es schien jedoch, als ob der Mann sich aus der menschlichen Gesellschaft verabschiedet hätte, ohne irgendwo eine Lücke oder auch nur den kleinsten Wellenschlag zu hinterlassen. Bei einem Menschen, der weder Verwandte noch Vorfahren zu haben schien, ja nicht einmal Kleider anhatte, glich das Nachdenken über ein Mordmotiv dem Versuch, sich die vierte Dimension vorzustellen - eine hervorragende Übung für die Phantasie, aber mühsam und fruchtlos. Selbst wenn das heutige Gespräch dunkle Flecken in Mr. Crimpleshams Vergangenheit oder Gegenwart zutage fördern sollte, wie wären diese mit einer Person, die offenbar keine Vergangenheit besaß und deren Gegenwart auf den engen Rand einer Badewanne und das polizeiliche Leichenschauhaus beschränkt war, in Verbindung zu bringen?
    »Bunter«, sagte Lord Peter, »ich wünsche, daß Sie mich künftig davon abhalten, zwei Hasen gleichzeitig auf die Bahn zu schicken. Diese beiden Fälle beginnen an meiner Konstitution zu zehren. Der eine Hase hat kein Woher, der andere kein Wohin. Es ist gewissermaßen ein geistiges Delirium tremens, Bunter. Wenn das vorbei ist, werde ich unter die Abstinenzler gehen, allen Polizeinachrichten abschwören und mir als beruhigende Diät nur noch die Werke des seligen Charles Garvice zu Gemüte führen.«
    *
    Es war nur die relative Nähe zum Milford Hill, die Lord Peter verleitete, sein Mittagessen im Münster-Hotel und nicht im Weißen Hirsch oder irgendeinem anderen malerisch gelegenen Gasthaus einzunehmen. Das Essen war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben; wie in allen Domstädten durchdringt die Atmosphäre der frommen Stätte alle Ecken und Winkel von Salisbury, und alles Essen in der Stadt schmeckt leicht nach Gebetbuch. Während er betrübt dasaß und jene langweilige gelbliche Masse verzehrte, die den Engländern als »Käse« ohne nähere Bezeichnung bekannt ist (denn es gibt auch Käse, der sich offen mit seinem Namen zu erkennen gibt, wie Stilton, Camembert, Gruyere, Wensleydale oder Gorgonzola, wohingegen »Käse« eben Käse und überall dasselbe ist), fragte er den Kellner nach dem Weg zu Mr. Crimpleshams Kanzlei.
    Der Kellner beschrieb ihm ein Haus ein Stückchen weiter die Straße hinauf auf der gegenüberliegenden Seite und fügte hinzu: »Aber das kann Ihnen jeder sagen, Sir; Mr. Crimplesham ist hier überall gut bekannt.«
    »Dann ist er wohl ein guter Anwalt, ja?« fragte Lord Peter.
    »O ja, Sir«, antwortete der Kellner, »Sie könnten gar nichts Besseres tun, als sich Mr. Crimplesham anzuvertrauen, Sir. Es gibt zwar Leute, die Mr. Crimplesham altmodisch nennen, aber ich würde meine Geschäfte lieber von Mr. Crimplesham besorgen lassen als von einem dieser leichtfertigen jungen Männer. Es ist zwar so, daß Mr. Crimplesham sich wohl bald zur Ruhe setzen dürfte, Sir, denn er muß schon fast achtzig sein, aber dann könnte der junge Mr. Wicks die Kanzlei ja weiterführen, und das ist ein sehr netter, solider junger Mann.«
    »Ist Mr. Crimplesham wirklich schon so alt?« fragte Lord Peter. »Du meine Güte! Dann muß er aber für sein Alter noch sehr agil sein. Ein Freund von mir hatte erst vorige Woche in London geschäftlich mit ihm zu tun.«
    »Er ist noch wunderbar agil, Sir«, bestätigte ihm der Kellner, »und das mit seinem lahmen Bein, Sir, man kann sich nur wundern. Aber wissen Sie, Sir, oft glaube ich, wenn ein Mann erst ein bestimmtes Alter überschritten hat, wird er um so zäher, je älter er wird, und mit den Frauen ist es mehr oder weniger genauso.«
    »Das kann wohl sein«, meinte Lord Peter, indem er sich vorzustellen versuchte, wie ein Achtzigjähriger mit lahmem Bein um Mitternacht eine Leiche über das Dach eines Wohnhauses in Battersea schleppte. Er verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. »Aber zäh ist Joey Bagstock, Sir, zäh und teuflisch schlau«, fügte er gedankenlos hinzu.
    »Ach ja, Sir?« fragte der Kellner. »Dazu kann ich nun wirklich nichts sagen.«
    »Entschuldigung«, sagte Lord Peter, »ich habe nur aus einem Buch zitiert. Sehr albern von mir. Das habe ich mir schon auf dem Mutterschoß angewöhnt und kann einfach nicht davon lassen.«
    »Aha, Sir«, sagte der Kellner, indem er ein großzügiges Trinkgeld einsteckte. »Vielen Dank, Sir. Sie finden das Haus ganz

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