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Ein Toter zu wenig

Ein Toter zu wenig

Titel: Ein Toter zu wenig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Leigh Sayers
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große Spezialist in den Zeugenstand trat. Er war nicht nur ein berühmter Mann, sondern auch eine eindrucksvolle Erscheinung mit seinen breiten Schultern, der aufrechten Haltung und der Löwenmähne. Die Art, wie er die Bibel küßte, die ihm von einem Gerichtsbeamten mit dem üblichen unterwürfigen Gemurmel gereicht wurde, war die eines Paulus, der sich herabläßt, den furchtsamen Hokuspokus abergläubischer Korinther mitzumachen.
    »So ein gutaussehender Mann, finde ich immer«, flüsterte die Herzogin Mr. Parker zu, »ganz wie William Morris, mit diesem buschigen Haar und dem Bart und diesen aufregenden Augen, die daraus hervorschauen - wie schön, wenn diese braven Männer sich immer für irgendeine Sache einsetzen - nicht daß ich den Sozialismus nicht für einen Fehler halte - natürlich funktioniert er bei all diesen netten Menschen, die so gut und glücklich sind mit ihrem Kunsthandwerk, und das Wetter ist auch immer vollkommen - ich spreche natürlich von Morris - aber im wirklichen Leben ist das so schwierig. Mit der Wissenschaft ist das etwas anderes - wenn ich es mit den Nerven hätte, würde ich ganz bestimmt zu Sir Julian gehen, allein um ihn anzuschauen - solche Augen geben einem schon etwas, woran man denken kann, und das brauchen doch die meisten Menschen nur - aber ich hatte eben noch nie welche - Nerven, meine ich. Finden Sie das nicht auch?«
    »Sie sind Sir Julian Freke«, sagte der Untersuchungsrichter, »und wohnen im St. Luke's-Haus in der Prince of Wales Road in Battersea, wo Sie Chefarzt der chirurgischen Abteilung im St. Luke's-Krankenhaus sind?«
    Sir Julian bestätigte diese Personenbeschreibung.
    »Sie waren der erste Arzt, der den Verstorbenen zu sehen bekam?«
    »Ja«
    »Und Sie haben den Toten inzwischen zusammen mit Dr. Grimbold von Scotland Yard untersucht?«
    »Ja.«
    »Sind Sie sich hinsichtlich der Todesursache einig?«
    »Im großen und ganzen ja.«
    »Könnten Sie Ihre Erkenntnisse den Geschworenen mitteilen?«
    »Am Montagmorgen gegen neun Uhr war ich im Seziersaal des St. Luke's-Krankenhauses mit Forschungsarbeiten beschäftigt, als mir mitgeteilt wurde, daß Inspektor Sugg mich zu sprechen wünsche. Er sagte mir, man habe in den Queen Caroline Mansions Nummer 59 unter mysteriösen Umständen die Leiche eines Mannes entdeckt. Er fragte, ob es denkbar wäre, daß sich da einer unserer Medizinstudenten einen Scherz erlaubt habe. Ich konnte ihm jedoch, nachdem ich in den Büchern des Krankenhauses nachgesehen hatte, versichern, daß uns keine Leiche aus dem Seziersaal abhanden gekommen sei.«
    »Wer ist für solche Leichen zuständig?«
    »William Watts, der die Aufsicht über den Seziersaal hat.«
    »Ist William Watts hier anwesend?« fragte der Untersuchungsrichter den Gerichtsbeamten.
    William Watts war anwesend und konnte aufgerufen werden, sofern der Untersuchungsrichter es wünschte.
    »Ich nehme an, daß keine Leiche ohne Ihr Wissen ins Krankenhaus gebracht werden kann, Sir Julian?«
    »Mit Bestimmtheit nicht.«
    »Danke. Könnten Sie mit Ihrer Aussage fortfahren?«
    »Inspektor Sugg fragte mich dann, ob ich einen Arzt schicken könne, der sich den Toten einmal ansehe. Ich antwortete, ich würde selbst kommen.«
    »Warum taten Sie das?«
    »Ich gestehe, daß mir, wie jedem normalen Menschen, Neugier nicht fremd ist, Sir.« In den hinteren Reihen lachte ein Medizinstudent.
    »Als ich in der Wohnung ankam, fand ich die Leiche auf dem Rücken liegend in der Badewanne. Ich untersuchte den Toten und kam zu dem Ergebnis, daß der Tod durch einen Schlag ins Genick herbeigeführt worden war, der den vierten und fünften Nackenwirbel dislozierte, das Rückenmark verletzte und innere Blutungen und eine teilweise Gehirnlähmung hervorrief. Nach meinem Eindruck war der Mann schon mindestens zwölf Stunden tot, möglicherweise auch länger. Sonst fand ich an der Leiche keine weiteren Spuren von Gewalteinwirkung. Der Tote war ein kräftiger, wohlgenährter Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren.«
    »Könnte der Tote sich Ihrer Ansicht nach die Verletzung selbst beigebracht haben?«
    »Bestimmt nicht. Der Schlag war mit einem schweren, stumpfen Gegenstand von hinten geführt worden, und zwar mit erheblicher Kraft und großer Zielgenauigkeit. Es ist völlig ausgeschlossen, daß er ihn selbst geführt hat.«
    »Könnte die Verletzung die Folge eines Unfalls gewesen sein?«
    »Das ist natürlich möglich.«
    »Wenn der Verstorbene zum Beispiel aus dem Fenster geschaut hätte und das

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