Ein Traummann auf Mallorca
Schatten einer großen Korkeiche am Wegesrand stand. „Es tut mir leid“, schluchzte sie, nachdem sie sich gesetzt hatte, und barg das Gesicht in den Händen. „Normalerweise bin ich nicht so wehleidig, aber …“
„Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.“ Als sie den Blick hob, schenkte Javier ihr ein – wie er hoffte – aufmunterndes Lächeln. „Du bist emotional aufgewühlt, was angesichts der Umstände nicht weiter verwunderlich ist.“
Sie musterte ihn nachdenklich. Noch immer schimmerten Tränen in ihren herrlichen veilchenblauen Augen, doch sie hatte sich wieder im Griff. Was es nicht leichter für Javier machte. Abermals verspürte er den schier unwiderstehlichen Drang, ihr Gesicht zwischen seine Hände zu nehmen, sich zu ihr zu beugen und …
Carajo!
Er räusperte sich ausgiebig und sprach nach einem Moment des Schweigens weiter: „Aber obwohl die Beziehung zwischen deinem Vater und dir alles andere als unkompliziert ist, bist du hier, um ihm beizustehen. Warum?“
„Weil er, trotz aller Differenzen, die wir hatten, noch immer mein Vater ist. Ich kann ihn nicht hassen, Javier. Vielleicht wäre das normal, aber ich kann es einfach nicht. Irgendwie hat das kleine Mädchen in mir wohl nie aufgehört zu existieren. Und es sehnt sich noch immer danach, von Daddy geliebt zu werden.“
Bei Charlenes Worten konnte Javier gar nicht anders, als seine eigene Situation einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er war nach Catalinas Tod nicht sehr oft für seine Tochter da gewesen. Wie Graham Beckett hatte er sich in seiner Arbeit vergraben und es anderen überlassen, sich um Aurora zu kümmern. So lange, dass sie sich schon beinahe voneinander entfremdet hatten.
Nur Charlene war es zu verdanken, dass sie wieder mehr Zeit miteinander verbrachten. Zu Anfang hatte er ihre Einmischung in seine Privatangelegenheiten als störend, ja sogar als anmaßend empfunden. Inzwischen begriff er mehr und mehr, dass es ihr ausschließlich darum gegangen war, Aurora und ihn vor dem Schicksal zu bewahren, das sie selbst durchlebt hatte.
Aber da war noch etwas, das ihm einfach nicht aus dem Kopf ging. „Ich bewundere dich“, sagte er leise. Und als sie ihn zweifelnd anblickte, nickte er bekräftigend. „Das meine ich wirklich ernst. Wäre ich an deiner Stelle gewesen – ich glaube nicht, dass ich es geschafft hätte, über meinen Schatten zu springen.“
„Doch, das hättest du gewiss.“
Javier schüttelte den Kopf. „Nein, hätte ich nicht.“ Er lächelte bitter. „Und das kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, denn zwischen meinem Vater und mir herrscht seit Jahren Funkstille – und ich glaube nicht, dass sich daran jemals etwas ändern wird.“
Einen Moment lang schwiegen sie, dann fragte Charlene behutsam: „Was ist zwischen euch vorgefallen, dass du so unversöhnlich bist, Javier? Was hat dein Vater getan?“
„Ach“, er winkte ab, „das ist eine lange Geschichte.“
„Das macht nichts.“ Diesmal lächelte sie aufmunternd. „Wir haben noch anderthalb Stunden, bis die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen.“
Er seufzte, und schließlich nickte er. „Also schön, ganz wie du willst …“
Acht Jahre zuvor
„Verdammt, das kann er nicht tun! Reicht es denn nicht, dass er das Familienvermögen dafür verschleudert, dieser Frau jeden Wunsch zu erfüllen, den er ihr von den Augen abliest? Muss er nun unbedingt auch noch die Firma ruinieren?“ Luís, der mittlere der Santiago-Brüder, unterbrach sein wütendes Auf und Ab durch Javiers Büro und fuhr sich mit einem gemurmelten Fluch durchs Haar. „Mir will nicht in den Kopf, wie er so etwas auch nur in Erwägung ziehen kann!“
„Er tut das, weil er völlig verblendet ist“, erklärte Alejandro, der Jüngste, seufzend. Er saß vorgebeugt in einem der bequemen Clubsessel, die für Besucher bereitstanden, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. „Seit Lauras Verschwinden ist er nicht mehr der, der er vorher war. Wir wissen doch alle, dass er sich nie wirklich davon erholt hat. Und als sie dann auftauchte …“
Sie , das war die Frau, die vor etwas mehr als einem halben Jahr plötzlich vor der Tür ihres Elternhauses gestanden und behauptet hatte, Laura zu sein.
Laura, die einzige Schwester der drei Santiago-Brüder.
Laura, die im Alter von sechs Jahren bei einem Familienausflug spurlos verschwunden war …
Dass es eine gewisse Ähnlichkeit gab, konnten Javier und seine
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