Ein Traummann auf Mallorca
war sie unwillkürlich davon ausgegangen, dass Catalina Santiago bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Vermutlich auch, weil man junge Menschen nicht ohne Weiteres mit Krankheit und Leid in Verbindung brachte. Was dumm und kurzsichtig war. Das Schicksal machte ebenso wenig Unterschied zwischen Alt und Jung wie zwischen Arm und Reich.
Sie senkte den Blick. „Es tut mir leid, Javier. Ich wollte nicht …“
Er hob die Hand und brachte Charlene mit seinem sanften Lächeln zum Schweigen. „Das weiß ich.“ Seine Stimme klang ehrlich. „Und es muss dir auch nicht leidtun. Solche Dinge geschehen. Das Leben ist nun einmal so. Aber dieser Ort ruft mir eben jedes Mal in Erinnerung, dass wir Menschen dazu neigen, erst dann zu erkennen, was wir an jemandem haben, wenn wir im Begriff stehen, ihn zu verlieren.“
Charlene schluckte. Treffender hätte man das, was sie angesichts der gesundheitlichen Krise ihres Vaters empfand, nicht beschreiben können. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, doch sie kämpfte tapfer dagegen an. Seufzend fuhr sie sich durchs Haar. Ihre Finger zitterten leicht. „Ich weiß genau, was du meinst“, sagte sie. „Mein Vater und ich … Nun, lass es mich so sagen: Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, war unsere Beziehung zueinander nicht unbedingt die allerbeste.“ Ein Laut – halb Lachen, halb Schluchzen – entrang sich ihrer Kehle. „Nein, das stimmt nicht. Überhaupt von einer Beziehung zu sprechen wäre schon zu viel. Mein Vater stürzte sich in seine Arbeit, um sich von seiner Wut und seinem Schmerz abzulenken. Manchmal bekam ich ihn eine ganze Woche nicht zu Gesicht, weil er immer erst heimkam, wenn ich längst im Bett lag. Morgens fuhr er dann schon in aller Herrgottsfrühe wieder zur Werft. Ich vermute, für ihn war dies die einzige Möglichkeit, den Verrat seiner Ehefrau zu verarbeiten. Nur leider vergaß er darüber, dass er auch noch eine Tochter hatte. An manchen Tagen fragte ich mich, ob er sich daran erinnerte, dass es mich überhaupt gab.“
Während sie davon erzählte, spürte sie den alten Zorn wieder in sich hochkochen. Die hilflose Wut eines kleinen Mädchens, das sich ungeliebt und zurückgestoßen gefühlt hatte. Und einen kurzen Moment lang war sie wieder fünf Jahre alt, ängstlich und verzweifelt. Im Stich gelassen von den beiden Menschen, die ihr im Leben am allermeisten bedeuteten: Mutter und Vater. Und dem schrecklichen Gefühl, nicht genug geliebt zu werden, um sie halten zu können.
Nun ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Rasch wandte sie sich ab.
Javier stockte der Atem. Der Schmerz, der in Charlenes Augen gestanden hatte, rührte etwas tief in ihm an. Vielleicht, weil er in ihr auch ein wenig sich selbst wiedererkannte. Und sogar jetzt, als sie ihm den Rücken zuwandte, konnte sie ihre Erschütterung nicht verbergen. Er sah, wie ihre Schultern bebten, und verspürte den unwiderstehlichen Drang, sie in die Arme zu schließen, um ihr Trost und Halt zu geben. Doch er wusste auch, dass er genau das nicht tun durfte.
Nicht, nachdem er sie vorhin am Strand geküsst hatte.
Er hätte nicht sagen können, was in dem Moment in ihn gefahren war. Normalerweise verachtete er Männer, die ihre weiblichen Angestellten als Freiwild betrachteten, und trennte strikt zwischen Beruflichem und Privatem. Nicht dass er seit Catalinas Tod ein nennenswertes Privatleben gehabt hätte. Ein oder zwei Mal war er mit Dolores zu Veranstaltungen gegangen, bei denen er seine Teilnahme nicht hatte absagen können. Doch abgesehen davon, dass sie für ihn arbeitete, war Dolores für ihn so etwas wie eine kleine Schwester.
Die Gefühle dagegen, die er für Charlene hegte, konnte man beim besten Willen nicht als geschwisterlich bezeichnen.
Wenn er auf die Stimme der Vernunft hörte, ließ er besser die Finger von ihr. Sie war nicht nur Auroras Kindermädchen, sondern auch die Tochter seines ärgsten Konkurrenten. Er wusste nicht einmal, ob er ihr vertrauen konnte, und es wäre der blanke Wahnsinn, sich mit ihr einzulassen. Warum konnte er trotzdem nicht aufhören, ständig an sie zu denken?
Javier schüttelte den Kopf, um die störenden Gedanken zu vertreiben. Was ihm auch gelang – zumindest für den Augenblick. Er trat hinter Charlene und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Komm“, sagte er. „Dort hinten ist eine Bank. Setzen wir uns.“
Widerstandslos ließ sie sich von ihm zu der hübschen, schmiedeeisernen Parkbank führen, die im
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