Ein Tropfen Zeit
keinen Grund zu der Annahme, daß Professor Lane absichtlich auf den Bahndamm gegangen sei, als der Zug herankam. Das Urteil lautete auf Tod infolge eines Unglücksfalls, mit dem Zusatz, daß die britischen Eisenbahngesellschaften im Westen des Landes wohl daran täten, die Drahtzäune und Gefahrenhinweise an den Bahnlinien sorgfältig zu überprüfen.
Es war überstanden. Herbert Dench lächelte mir zu, als wir hinausgingen, und sagte: »Sehr zufriedenstellend für alle Beteiligten. Ich schlage vor, daß wir im Weißen Hirsch feiern. Ich muß Ihnen sagen, ich fürchtete ein ganz anderes Urteil, und dazu wäre es sicher auch gekommen, wenn Sie und Willis nicht über Professor Lanes eigenartige Beschäftigung mit den Winterverhältnissen berichtet hätten. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Fall im Himalaja …« Er erzählte uns, während wir ins Hotel gingen, von einem Wissenschaftler, der drei Wochen lang in unglaublicher Höhe und unter schrecklichen Bedingungen gelebt hatte, um den Einfluß der Atmosphäre auf bestimmte Bakterien zu erforschen. Ich sah zwar keine Beziehung zwischen den beiden Fällen, war aber dankbar für die Atempause, und als wir an unserem Ziel ankamen, ging ich sofort zur Bar und trank mir in aller Stille einen kleinen Schwips an. Niemand bemerkte es, und außerdem hörte das Zittern in meiner Hand sogleich auf. Vielleicht waren es doch nur die Nerven gewesen.
»Nun, wir wollen Sie nicht länger davon abhalten, Ihr hübsches neues Zuhause zu genießen«, sagte der Anwalt nach einem kurzen, aber sehr fröhlichen Mittagessen. »Willis und ich gehen zu Fuß zum Bahnhof.«
Während wir uns der Tür näherten, sagte ich zu Willis: »Ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Aussage danken. Magnus hätte das eine glänzende Show genannt.«
»Sie hat gewirkt«, gab er zu, »obwohl Sie mich ein bißchen aus der Fassung brachten. Auf Schnee war ich nicht vorbereitet. Aber das beweist wieder mal, was mein Chef immer sagte: ›Der Laie nimmt alles hin, wenn es mit der notwendigen Autorität vorgetragen wird.‹« Er blinzelte mir hinter seiner Brille zu und fragte ruhig: »Sie haben die Marmeladengläser vermutlich verschwinden lassen? Es ist nichts mehr übrig, das Ihnen oder irgend jemand anders schaden könnte?«
»Alles unter den Überresten vieler Jahre begraben.«
»Gut«, sagte er, »wir wollen nicht noch mehr Unheil erleben.«
Er zögerte, als wolle er noch etwas hinzufügen, aber der Anwalt wartete mit Vita am Hoteleingang, und die Gelegenheit war verpaßt. Wir verabschiedeten uns. Während wir zum Parkplatz gingen, bemerkte Vita mit echt weiblicher Diplomatie: »Ich habe bemerkt, daß deine Hand sofort ruhig wurde, als du in der Bar saßest. Aber wie dem auch sei – ich möchte trotzdem fahren.«
»Gern«, sagte ich, stülpte mir den Hut auf den Kopf und beschloß, im Wagen zu schlafen. Aber ich schaffte es nicht, denn ich mußte pausenlos an etwas Bestimmtes denken: Ich hatte Willis belogen, Flasche A und B waren leer, aber Flasche C existierte noch; sie lag in meinem Koffer im Ankleidezimmer.
21
Die gute Laune nach der fröhlichen Tafelrunde im Weißen Hirsch verflog schnell. Sie wich einer gereizten Stimmung, und ich war fest entschlossen, mich wieder als Herr des Hauses zu behaupten. Die Ermittlungen waren vorbei, und trotz meines dummen Versprechers – oder vielleicht gerade deshalb – war Magnus' Namen makellos geblieben. Die Polizei gab sich zufrieden, die Neugier der Einheimischen würde mit der Zeit nachlassen, und ich hatte nichts mehr zu befürchten außer der Einmischung meiner Frau. Dem mußte abgeholfen werden, und zwar so rasch wie möglich. Die Jungen waren zum Reiten gegangen. Ich suchte Vita und fand sie schließlich mit einem Meßband in der Hand auf dem Treppenabsatz vor dem Zimmer der Jungen.
»Weiß du, der Anwalt hat recht gehabt«, sagte sie. »Du könntest das Haus in sechs kleine Wohnungen oder sogar mehr aufteilen, wenn du auch das Kellergeschoß umbaust … Wir könnten uns das Geld von Joe leihen.« Sie rollte das Meßband zusammen und lächelte. »Oder hast du eine bessere Idee? Der Professor hat dir kein Geld vermacht, um das Haus zu unterhalten, und du hast keine Arbeit, es sei denn, wir gehen nach Amerika, und Joe gibt dir eine. Wie wär's also zur Abwechslung mit dem praktischen Denken?«
Ich drehte mich um und ging ins Musikzimmer hinunter. Wie erwartet, folgte sie mir. Ich pflanzte mich vor dem Kamin auf – seit undenklichen Zeiten
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