Ein Tropfen Zeit
ins Arzneiglas. Das hatte schon einmal geholfen, und zwar ohne unangenehme Folgen.
Ich kehrte in den Innenhof zurück und blieb bis nach eins dort, aber da immer noch nichts geschah, ging ich hinauf und aß etwas. Das hieß also, daß der Inhalt von Flasche C seine Kraft eingebüßt oder Magnus die wichtigsten Bestandteile fortgelassen hatte. Flasche C war wertlos. Wenn das stimmte, hatte ich meinen letzten Trip bereits hinter mir. Der Vorhang hatte sich vor meinem Gang im Schneetreiben über den Treesmill-Fluß gehoben und war nach dem Dritten Akt am Eisenbahntunnel gefallen. Ich war am Ende der Reise angelangt.
Dieser Gedanke war so vernichtend, daß ich mich wie betäubt fühlte. Ich hatte nicht nur Magnus, sondern auch die andere Welt verloren. Sie lag dicht neben mir, aber unerreichbar. Die Leute jener Welt würden sich in ihrer Zeit, aber ohne mich fortbewegen, ich mußte meinen eigenen Weg gehen und Gott weiß was für einen eintönigen Alltag auf mich nehmen. Das Band zwischen den Jahrhunderten war zerrissen.
Ich ging noch einmal ins Kellergeschoß und in den Innenhof, in der Hoffnung, durch die Berührung der Steinfliesen und Mauern werde irgendeine Kraft auf mich übergehen, Roger werde durch die Tür des Heizungsraums treten oder Robbie mit einem Pony am Zügel hinter den Ställen auftauchen. Ich wußte, daß sie da waren, auch Isolda, die darauf wartete, daß der Schnee schmolz. Das Haus war nicht von Toten, sondern von Lebenden bewohnt; ich war der rastlose Wanderer, ich war das Gespenst.
Der Drang, sie alle zu sehen, zu hören und unter ihnen einherzuwandeln, wurde so stark, daß ich es kaum noch ertragen konnte; es war, als hätte ein riesiges Feuer mein Gehirn in Brand gesetzt. Ich fand keine Ruhe. Es war mir nicht möglich, irgendeine Arbeit in Haus oder Garten zu beginnen. Der Tag war verloren, und die ersehnten Zauberstunden verstrichen ungenutzt.
Ich holte den Wagen heraus und fuhr nach Tywardreath; der Anblick der behäbigen Dorfkirche erschien mir wie ein Hohn. Sie hatte kein Recht, in ihrer gegenwärtigen Form dazustehen. Ich wollte sie wegfegen, so daß nur das südliche Schiff und die Kapelle der Priorei übrigblieben, das heißt die Mauern der Priorei, die den Friedhof umfaßten. Ich fuhr zu der Ausweichstelle bei Treesmill, wendete, parkte den Wagen und dachte, am Steinbruch würde wenigstens die Erinnerung an das einst Gesehene die Leere in mir aufheben.
Ich stand neben meinem Wagen und wollte mir gerade eine Zigarette anzünden; aber sie hatte meine Lippen noch nicht berührt, als mich ein Schock von Kopf bis Fuß durchfuhr, als sei ich auf ein elektrisch geladenes Kabel getreten. Dies war kein ruhiger Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit, sondern eine Schmerzempfindung. Blitze zuckten vor meinen Augen, und in meinen Ohren donnerte es. »Es ist vorbei«, dachte ich, »ich sterbe.« Aber die Blitze verblaßten, der Donner verklang, und ich sah oben auf dem Hügel, wo ich stand, eine Menschenmenge, die sich zu einem Gebäude hinter dem Weg drängte. Von Tywardreath kamen immer mehr Männer, Frauen und Kinder. Alle strebten auf das unregelmäßige Gebäude mit bleiverglasten Fenstern und einer kleine Kapelle zu. Ich hatte dieses Dorf schon einmal gesehen, am Martinstag, aber vom Dorfplatz hinter den Mauern der Priorei aus. Heute gab es keine Stände, keine fahrenden Musikanten, keine geschlachteten Tiere. Die Luft war frisch und kalt, die Gräben von Schnee umsäumt, der im Laufe der Wochen grau und hart geworden war. Kleine Pfützen auf der Straße hatten sich in eisbedeckte Krater verwandelt, und die Äcker dahinter waren rissig und hartgefroren. Männer, Frauen und Kinder hatten sich zum Schutz vor der Kälte vermummt und in Kapuzen gehüllt, und ihre Gesichter wirkten scharf wie Vogelköpfe. Es herrschte keine heitere, vergnügte Stimmung; die Menschenmenge wirkte raubgierig, auf ein Schauspiel erpicht, das auch böse ausgehen konnte. Ich trat näher an das Gebäude heran und bemerkte neben dem Eingang der Kapelle einen bedeckten Reisewagen und mehrere Diener. Ich erkannte das Wappen der Champernounes und auch ihre Knechte; Roger stand mit verschränkten Armen in der Vorhalle der Kapelle.
Die Tür des Hauptgebäudes öffnete sich, und ein Mann, besser gekleidet als die übrigen, die sich an der Straße drängten, trat mit einem Gefährten heraus. Ich kannte sie beide, denn ich hatte sie zum letztenmal in jener Nacht gesehen, als Bodrugan sie überredete, sich am
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