Ein Tropfen Zeit
historische Dokumente gesehen, die ihre Existenz beweisen. Unten in der Bibliothek habe ich Papiere, die nicht lügen.«
»Natürlich hat sie gelebt«, gab er zu, »und mehr noch, sie hatte zwei kleine Töchter mit Namen Joanna und Margaret. Sie haben mir von ihnen erzählt. Kleine Mädchen sind oft faszinierender als kleine Jungen, und Sie haben zwei Stiefsöhne.«
»Und was in aller Welt soll das bedeuten?«
»Nichts«, entgegnete er, »es ist nur eine Feststellung. Jene Welt, die wir in uns tragen, bietet uns oft Lösungen an. Auswege. Eine Flucht vor der Realität. Sie wollten weder in London noch in New York leben. Das vierzehnte Jahrhundert war ein aufregendes, wenn auch ein wenig gruseliges Abwehrmittel gegen beide. Die Schwierigkeit besteht darin, daß Tagträume ebenso wie halluzinogene Drogen süchtig machen; je öfter wir der Versuchung erliegen, desto tiefer tauchen wir unter, und dann enden wir, wie ich bereits sagte, in der Irrenanstalt.«
»Was soll ich denn tun?« fragte ich. »Nun los, sagen Sie es schon.«
Er drehte sich um und sah mir offen in die Augen.
»Ehrlich gesagt, mir ist es gleich, was Sie tun«, sagte er. »Es ist nicht meine Sache. Als Ihr medizinischer Ratgeber und Beichtvater seit kaum einer Woche würde ich mich freuen, Sie noch ein paar Jahre hier zu sehen. Und wenn Sie Grippe haben, werde ich Ihnen mit Vergnügen die gewohnten Antibiotika verschreiben. Aber für die nahe Zukunft schlage ich vor, daß Sie dieses Haus so bald wie möglich verlassen, bevor Sie wieder der Drang überfällt, das Kellergeschoß aufzusuchen.«
Ich seufzte. »Das habe ich mir gedacht«, sagte ich. »Sie haben mit meiner Frau gesprochen.«
»Natürlich habe ich mit Ihrer Frau gesprochen, und abgesehen von ein paar weiblichen Eigenheiten ist sie eine sehr vernünftige Frau. Wenn ich sage, ziehen Sie fort, so meine ich nicht für immer. Aber zumindest in den nächsten Wochen sollten Sie sich lieber fernhalten. Sie müssen die zwingende Notwendigkeit selbst einsehen.«
Ich sah sie ein, kämpfte aber wie ein in die Enge getriebenes Tier und wollte Zeit gewinnen.
»Na schön«, sagte ich, »und wohin sollen wir ziehen? Was raten Sie uns? Wir haben doch die beiden Jungen.«
»Nun, die stören Sie doch nicht?«
»Nein … nein, ich habe sie sehr gern.«
»Es ist gleich, wohin, solange Sie Roger Kylmerths Anziehungskraft entkommen.«
»Mein zweites Ich?« fragte ich. »Er ist mir überhaupt nicht ähnlich. Wissen Sie das?«
»Das sind zweite Ichs nie«, sagte er. »Meins ist ein langhaariger Poet, der beim Anblick von Blut ohnmächtig wird. Er verfolgt mich, seit ich die medizinische Fakultät verließ.«
Nun mußte ich doch lachen. In seiner Sichtweite wirkte alles so einfach. »Schade, daß Sie Magnus nicht kannten«, bemerkte ich. »Sie erinnern mich in seltsamer Weise an ihn.«
»Ja, ich hätte ihn gern kennengelernt. Aber ich meine es ernst: Sie müssen fort. Ihre Frau meinte, Sie sollten nach Irland fliegen. Ein schönes Land zum Wandern und zum Fischen, und unter den Hügeln liegen goldene Töpfe vergraben …«
»Ja«, fiel ich ein, »und zwei ihrer Landsleute reisen dort durch die besten Hotels.«
»Die erwähnte sie auch«, sagte er, »aber ich glaube, sie sind abgefahren – das Wetter war ihnen zu schlecht, darum sind sie ins sonnige Spanien geflogen. Um die brauchen Sie sich also keine Gedanken zu machen. Ich finde, Irland ist eine gute Idee; es ist nur eine dreistündige Fahrt von hier nach Exeter, und von dort können Sie direkt hinfliegen. Mieten Sie drüben einen Wagen, und Sie sind frei.«
Vita und er hatten die ganze Sache abgesprochen. Ich saß in der Falle; es gab keinen Ausweg. Ich mußte gute Miene dazu machen und mich mit meiner Niederlage abfinden.
»Und wenn ich mich weigere? Wieder ins Bett krieche und mir die Decke über die Ohren ziehe?« fragte ich.
»Dann schicke ich nach dem Krankenwagen und verfrachte Sie ins Krankenhaus. Ich dachte, Irland sei Ihnen angenehmer, aber es steht ganz bei Ihnen.«
Fünf Minuten später war er fort, und ich hörte seinen Wagen die Einfahrt hinunterbrausen. Jetzt erst empfand ich tiefe Niedergeschlagenheit; die Entleerung war gründlich gewesen, aber ich wußte immer noch nicht, wieviel ich ihm erzählt hatte. Zweifellos ein Durcheinander von allem möglichen, was ich von meinem dritten Lebensjahre an erlebt und getan hatte, und er hatte es, wie alle Ärzte, die zur Psychoanalyse tendieren, zusammengesetzt und mich als das
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