Ein Tropfen Zeit
Carminowe stand in vorderster Reihe, neben ihm Sir Henrys Gemahlin Joanna. Als wir näherkamen, flüsterte er ihr ins Ohr: »Werde ich Euch allein antreffen, wenn ich morgen herüberreite?«
»Vielleicht«, sagte sie, »aber wartet lieber noch, bis ich Euch Nachricht sende.«
Er verneigte sich, um ihr die Hand zu küssen, dann schwang er sich auf das Pferd, das ein Stallbursche bereithielt, und galoppierte davon. Joanna sah ihm nach und wandte sich dann an den Verwalter:
»Sir Oliver und Lady Isolda wohnen heute nacht bei uns«, sagte sie. »Sieh zu, daß du ihre Abreise ein wenig beschleunigst. Und suche auch Sir Henry. Ich möchte fort.«
Sie stand in der Tür, trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern, und ihre braunen Augen blickten sinnend, als schmiede sie einen Plan, um ihrem Ziel näherzukommen. Roger ging ins Haus, und ich folgte ihm. Vom Refektorium her hörte man Stimmen, und als er einen Mönch fragte, erfuhr er, daß Sir Oliver Carminowe mit anderen Männern der Gesellschaft gerade einen Imbiß zu sich nahm, seine Gemahlin aber sei noch in der Kapelle.
Roger zögerte einen Augenblick und ging dann zur Kapelle. Zuerst sah es aus, als sei sie leer. Man hatte die Kerzen auf dem Altar gelöscht, und das Licht war trüb. Zwei Gestalten standen am Gitter, ein Mann und eine Frau. Als wir näherkamen, erkannten wir sie: Es waren Otto Bodrugan und Isolda Carminowe. Sie sprachen leise miteinander, und ich konnte nicht hören, was sie sagten, aber aus Isoldas Gesicht war alle Müdigkeit und Langeweile gewichen, und plötzlich sah sie zu ihm auf und lächelte.
Roger klopfte mir auf die Schulter. »Es ist viel zu dunkel hier, man kann ja nichts sehen. Soll ich Licht machen?«
Aber es war nicht seine Stimme. Er war verschwunden und mit ihm die anderen. Ich stand im Seitenschiff der Kirche und neben mir ein Mann, der unter seiner Tweedjacke den steifen Kragen eines Geistlichen trug.
»Ich sah gerade, wie Sie über den Friedhof gingen«, sagte er, »und Sie sahen aus, als könnten Sie sich nicht recht entschließen, hereinzukommen. Aber nun sind Sie hier, und ich werde Ihnen alles zeigen. Ich bin der Pfarrer von St. Andrews. Es ist eine schöne alte Kirche, und wir sind sehr stolz auf sie.«
Er schaltete alle Lampen an. Ich blickte auf meine Uhr; mir war weder übel noch schwindlig. Es war genau halb vier.
4
Ich hatte den Übergang gar nicht bemerkt, sondern war augenblicklich von einer Welt in die andere eingetreten, und zwar ohne die physischen Nebenwirkungen, die ich am Tag zuvor gespürt hatte. Das einzig Schwierige war, daß ich mich geistig wieder zurechtfinden mußte, was eine fast unerträgliche Konzentration erforderte. Zum Glück ging der Pfarrer mir voran durch das Kirchenschiff und plauderte, und wenn mein Gesichtsausdruck etwas merkwürdig wirkte, so war er zu höflich, um sich darüber zu äußern.
»Im Sommer kommen immer ziemlich viele Besucher her«, sagte er, »die Leute wohnen im Dorf, oder sie kommen von Fowey herüber. Aber Sie müssen ja ein ganz begeisterter Kirchenbesichtiger sein, daß Sie im Regen auf dem Friedhof herumstehen.«
Es kostete mich ungeheure Anstrengung, mich zusammenzunehmen. »Eigentlich«, sagte ich und stellte überrascht fest, daß ich sogar sprechen konnte, »interessiere ich mich weniger für die Kirche selbst oder für die Gräber. Irgend jemand sagte mir, daß dort früher einmal eine Priorei gestanden hat.«
»Ham, ja, die Priorei«, antwortete er. »Das ist lange her, und leider blieb von ihr keine Spur. Die Gebäude verfielen alle nach der Auflösung der Klöster im Jahre 1539. Manche sagen, sie hätte dort gestanden, wo heute der Newhouse-Hof liegt, dicht unterhalb des Tales, andere meinen, dort, wo der heutige Friedhof ist, südlich der Kirche, aber niemand weiß es genau.«
Er führte mich zum nördlichen Querschiff, um mir den Grabstein des letzten Priors zu zeigen, der 1538 vor dem Altar bestattet worden war, und machte mich auf die Kanzel, einen Teil des Kirchengestühls und die Überreste des alten Lettners aufmerksam. Nichts von allem erinnerte an die kleine Kirche, die ich vor kurzem gesehen hatte, mit dem großen Gitter, das sie von der Kapelle der Priorei abtrennte; und als ich jetzt neben dem Pfarrer stand, konnte ich auch das Querschiff und die Seitenschiffe nicht rekonstruieren.
»Alles ist so ganz verändert«, sagte ich.
»Verändert?« wiederholte er erstaunt. »Ach so, ja gewiß. Die Kirche wurde 1880 weitgehend restauriert, aber
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