Ein Tropfen Zeit
womöglich nicht allzu geschickt. Sind Sie enttäuscht?«
»Nein«, versicherte ich hastig, »gar nicht. Nur … nun ja, wie ich bereits sagte, ich interessiere mich für die frühe Vergangenheit, lange vor der Auflösung der Klöster …«
»Ich verstehe.« Er lächelte wohlwollend. »Ich habe mich auch oft gefragt, wie wohl früher alles aussah, als die Priorei dicht neben der Kirche stand. Es war ein französisches Haus, der Benediktinerabtei des St. Sergius und Bacchus in Angers angeschlossen, und ich glaube, die meisten Mönche waren Franzosen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr darüber sagen, aber ich bin erst ein paar Jahre hier, und außerdem bin ich leider kein Historiker.«
»Ich auch nicht«, sagte ich, und wir gingen zur Vorhalle zurück.
»Wissen Sie etwas über die einstigen Besitzer des Gutshofes?« fragte ich.
Er schwieg und schaltete zuerst einmal das Licht aus. »Nur das, was ich in der Gemeindegeschichte gelesen habe«, sagte er. »Der Gutshof wird als Tiwardrai erwähnt, als das Haus am Strand, und er gehörte der angesehenen Familie der Cardinham, bis die letzte Erbin, Isolda, es im dreizehnten Jahrhundert an die Champernounes verkaufte, und als sie starben, ging es in andere Hände über.«
»Isolda?«
»Ja. Isolda de Cardinham. Sie heiratete einen gewissen William Ferrers von Bere in Devon – an Einzelheiten kann ich mich leider nicht mehr erinnern. In der Bibliothek von St. Austell würden Sie mehr darüber erfahren als bei mir.« Er lächelte wieder, und wir gingen durch die Tür zum Friedhof. »Wohnen Sie in der Nähe, oder sind Sie nur auf der Durchreise hier?« fragte er.
»Ich wohne hier. Professor Lane hat mir für den Sommer sein Haus überlassen.«
»Kilmarth? Ich kenne es natürlich, aber ich bin niemals drin gewesen. Ich glaube nicht, daß Professor Lane sehr oft herunterkommt, und er geht nicht zur Kirche.«
»Nein«, sagte ich, »wahrscheinlich nicht.«
Als wir uns am Tor verabschiedeten, sagte er: »Wenn Sie mal wiederkommen möchten, entweder zum Gottesdienst oder nur, um ein bißchen herumzugehen, würde es mich freuen, Sie zu sehen.«
Wir schüttelten einander die Hand, und ich ging zu meinem Wagen. Ich zündete mir eine Zigarette an, ließ den Motor anlaufen und fuhr an der Kirche vorbei. Eine seltsam freudige Stimmung überkam mich, als ich den Fluß im Tal überquerte und dann zu den abseits liegenden Läden des Dorfes fuhr. Noch vor zehn Minuten hatte alles unter Wasser gestanden, und an den schräg abfallenden Ländereien der Priorei plätscherte das Meer. Sandbänke hatten den weiten Bogen der Bucht umrahmt, wo jetzt Bungalows standen, und anstatt der Häuser und Geschäfte lag dort die Furt, die bei Höchststand der Flut nicht mehr zu durchqueren war. Ich parkte vor der Apotheke, kaufte Zahnpasta, und mein Hochgefühl nahm zu, während das Mädchen sie einwickelte. Mir schien, als sei sie wesenlos und ebenso der Laden und die anderen Leute, die neben mir standen; ich bemerkte, daß ich heimlich darüber lächelte und am liebsten gesagt hätte: »Ihr existiert alle nicht. Das alles liegt in Wirklichkeit unter Wasser.«
Ich stand vor dem Laden; es hatte aufgehört zu regnen. Die schwere Wolkendecke, die den ganzen Tag lang über mir gehangen hatte, zerriß endlich, und es erschien ein Himmel, dessen Blau von dunstigen Wolken unterbrochen wurde. Zu früh, nach Haus zu fahren. Zu früh, um bei Magnus anzurufen. Eines hatte ich wenigstens bewiesen: Dieses Mal hatte zwischen uns ganz sicher keine telepathische Verbindung bestanden. Am Nachmittag zuvor mochte er geahnt haben, wo ich mich befand, aber heute nicht. Das Labor in Kilmarth war keine Gespensterhöhle, in der man Geister beschwor, ebensowenig wie die Vorhalle der St. Andreas-Kirche von Geistern bevölkert gewesen war. Magnus mußte recht gehabt haben mit seiner Vermutung, daß irgendein früherer chemischer Prozeß umkehrbar sei und daß die Droge diese Verwandlung hervorrief, wobei alle Sinne auf die betreffende Situation reagierten, in Aktion traten und so die Vergangenheit erfaßten.
Ich war nicht aus einem Wunschtraum erwacht, als der Pfarrer mir auf die Schulter klopfte, sondern von einer lebendigen Realität in die andere übergegangen. Konnte die Zeit alle Dimensionen umfassen, so daß gestern, heute und morgen in endloser Wiederholung nebeneinander herliefen? Vielleicht brauchte man nur ein anderes Mittel, ein anderes Enzym, um die Zukunft zu zeigen, mich als gutmütigen, kahlköpfigen
Weitere Kostenlose Bücher