Ein Tropfen Zeit
haben, wenn sie genug Pillen gegen die Seekrankheit nimmt. Unter den Klippen ist eine Bucht. Man muß nur über ein paar Felder gehen. Aber Bullen gibt es nicht.«
»Liebling« – die saure Stimmung hatte sich versüßt oder war zumindest abgeklungen –, »ich glaube fast, du freust dich doch, daß wir kommen.«
»Natürlich«, sagte ich. »Warum solltest du das denn nicht glauben?«
»Wenn du mit deinem Professor zu tun hast, weiß ich nie so recht, was ich denken soll. Sowie er in der Nähe ist, scheint mit uns alles wie verhext … Hier sind die Jungen«, fuhr sie in verändertem Ton fort, »sie wollen dir guten Tag sagen.«
Die Stimmen meiner Stiefsöhne glichen sich ebenso wie ihr Äußeres, obwohl Teddy zwölf war und Micky zehn. Jeder sagte, daß sie ihrem Vater ähnlich sähen, der ein paar Jahre, bevor ich Vita begegnete, bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war. Nach dem Foto zu urteilen, das sie mit sich herumtrugen, stimmte das. Sie hatten einen typisch germanischen Kopf mit kurzgeschorenem Haar – genau wie er und zahllose andere Amerikaner – und unschuldige blaue Augen in einem breiten Gesicht; es waren nette Jungen, aber ich hätte auch ohne sie auskommen können.
»He, Dick«, sagten beide nacheinander.
»He«, wiederholte ich, und das Wort war meiner Zunge ebenso fremd, als spräche ich Tungalesisch.
»Wie geht es euch beiden?«
»Uns geht's gut«, sagten sie.
Eine lange Pause entstand. Mehr fiel ihnen nicht ein. Mir auch nicht. »Ich freue mich, euch nächste Woche wiederzusehen«, sagte ich.
Ich hörte langes Geflüster, dann war Vita wieder am Apparat. »Sie wollen schwimmen gehen und können es nicht mehr abwarten. Ich muß fort. Paß gut auf dich auf, Liebling, und übertreib es nicht mit Eimer und Besen.«
Ich setzte mich in die kleine Veranda, die Magnus' Mutter vor Jahren hatte bauen lassen, und blickte über die Bucht. Es war ein schöner Platz, friedlich und windgeschützt. Ich dachte schon, daß ich in den Ferien viel Zeit hier verbringen würde, nur um die Jungen nicht anschreien zu müssen; sicher würden sie Kricketschläger mitbringen und einen Ball, den sie ständig über die Mauer in das Feld dahinter schlagen würden.
»Jetzt mußt du ihn holen!«
»Nein, du bist dran, du!«
Dann Vitas Stimme hinter den Hortensienbüschen. »Na hört mal, wenn ihr euch zankt, dann wird überhaupt nicht Kricket gespielt, das ist mein Ernst«, und schließlich der Hilferuf an mich: »Tu doch etwas, Liebling, du bist der einzige erwachsene Mann hier.«
Heute wenigstens herrschte noch Ruhe in Kylmerth, während ich auf die Bucht hinaussah, über der ein Sonnenstrahl den Horizont berührte. Kylmerth … ich hatte das Wort ganz unbewußt so ausgesprochen, wie man es früher schrieb. Wurde die Gedankenverwirrung etwa zur Gewohnheit? Aber ich war zu müde, um mich selbst zu analysieren, darum stand ich wieder auf, wanderte ziellos auf dem Grundstück herum und beschnitt die Hecken mit einer alten Sichel, die ich im Heizungsraum gefunden hatte.
»Haben Sie den Appetit verloren?« fragte Mrs. Collin, als ich das Mittagessen mühsam beendet hatte und den Kaffee bestellte.
»Tut mir leid«, sagte ich, »das hat nichts mit Ihren Kochkünsten zu tun. Mir geht's nicht besonders.«
»Ich finde auch, Sie sehen müde aus. Das macht das Wetter. Der Himmel hat sich bezogen.«
Es war nicht das Wetter, es war nur meine Unrast, die mich zu körperlicher Tätigkeit trieb, so sinnlos sie sein mochte. Ich schlenderte über die Felder zum Meer, aber es sah genauso aus wie von der Veranda her, flach und grau. Danach mußte ich mühsam wieder hinaufsteigen. Der Tag schleppte sich hin. Ich schrieb einen Brief an meine Mutter, schilderte das Haus bis in langweilige Einzelheiten, nur um die Seiten zu füllen, und erinnerte mich dabei an die Pflichtbriefe, die ich aus der Schule schreiben mußte. »In diesem Semester bin ich in einem anderen Schlafsaal. Wir sind im ganzen fünfzehn.« Endlich um halb acht ging ich, physisch und geistig erschöpft, hinauf, warf mich angekleidet aufs Bett und war nach zehn Minuten eingeschlafen.
Der Regen weckte mich auf. Kein lautes Geräusch, nur ein Rauschen am offenen Fenster, und der Vorhang wehte. Es war stockfinster. Ich machte Licht; es war halb fünf. Ich hatte ganze neun Stunden geschlafen. Meine Erschöpfung war vergessen, und ich spürte wilden Hunger, da ich abends nichts gegessen hatte.
Das war der Vorteil des Alleinlebens: Ich konnte essen und
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