Ein Tropfen Zeit
Halle aus sehen konnte. Später Nachmittag. Ich lehnte an einer Bank am äußersten Ende des Raumes und hatte den Vorhof mit den Mauern vor mir. Zwei Kinder spielten im Hof, Mädchen im Alter von etwa acht und zehn Jahren – es war wegen der engen Mieder und den knöchellangen Röcken schwer zu sagen –, aber das lange, über den Rücken fallende blonde Haar und die Ähnlichkeit der feinen Gesichter ließen vermuten, daß es sich um die Töchter von Isolda handelte. Nur sie konnte zwei solche Kinder geboren haben, und ich erinnerte mich, daß Roger bei der Audienz des Bischofs zu seinem Gefährten Polpey gesagt hatte, sie habe erwachsene Stiefsöhne und zwei eigene Töchter.
Die beiden Mädchen spielten auf einem für sie vorgezeichneten Viereck so etwas wie Schach, mit Figuren, die aussahen wie gepunktete Kegel. Während sie diese herumschoben, stritten sie sich heftig darüber, wer als nächste drankommen sollte. Die Jüngste ergriff eine hölzerne Figur und verbarg sie in ihrem Rock, worauf es wieder Geschrei und Schläge gab und die beiden sich in die Haare gerieten. Plötzlich erschien Roger im Hof; er kam aus der Halle, in der er gestanden und sie beobachtet hatte. Er hockte sich nieder und nahm beide Mädchen bei der Hand.
»Wißt ihr, was geschieht, wenn junge Damen schimpfen?« fragte er. »Ihre Zungen werden schwarz und rollen sich in der Kehle zusammen, so daß sie ersticken. Meiner Schwester ist das einmal passiert, und sie wäre gestorben, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre und ihr die Zunge wieder herausgezogen hätte. Macht den Mund auf!«
Die Kinder rissen erschrocken den Mund auf und streckten die Zunge heraus. Roger berührte sie mit den Fingerspitzen und bewegte sie hin und her.
»Wir wollen zu Gott beten, daß das hilft«, sagte er, »aber vielleicht hält es nicht an, wenn ihr nicht artig werdet. So, nun macht den Mund zu und tut ihn erst wieder auf, wenn ihr beim Essen sitzt oder etwas Freundliches sagen wollt. Joanna, du bist die ältere, du solltest Margaret beibringen, wie sie sich zu benehmen hat und daß man keinen Mann unter dem Rock versteckt.« Er zog den Kegel aus dem Rock der Jüngeren und setzte die Figur auf die Fliesen. »So, jetzt spielt weiter, ich passe auf, daß ihr die Regeln einhaltet.«
Er erhob sich und stellte sich breitbeinig hin, so daß sie die Kegel um ihn herumschieben mußten; sie taten es zuerst zögernd, dann mit wachsendem Zutrauen und bald mit schallendem Gelächter, wenn er schwankte und stolpernd die Kegel umwarf, so daß sie mit seiner Hilfe wieder aufgestellt werden mußten. Jetzt rief eine Frau – vermutlich das Kindermädchen – von einem Torbogen hinter der Halle, und sie hoben die Kegel auf und überreichten sie feierlich Roger, der versprach, am nächsten Tag wieder mit ihnen zu spielen. Er empfahl dem Kindermädchen, sich später die Zungen der Kinder anzusehen und ihm zu sagen, ob sie etwa schwarz würden.
Er stellte die Figuren neben den Eingang und ging in die Halle, während die Kinder mit dem Mädchen im Hause verschwanden. Mir schien, als hätte er zum erstenmal menschliche Züge gezeigt. Er hatte seine Rolle als kühl berechnender und wahrscheinlich auch bestechlicher Verwalter einen Augenblick lang abgelegt und zugleich damit die Ironie, die grausame Gleichgültigkeit, die ich bisher in all seinen Handlungen wahrgenommen hatte.
Er stand im Gang und lauschte. Außer uns beiden war niemand da, und als ich mich umsah, bemerkte ich, daß das Haus sich seit jenem Maitag, als Henry Champernoune gestorben war, irgendwie verändert hatte. Es wirkte nicht richtig bewohnt, sondern nur unregelmäßig benutzt. Man hörte kein Hundebeilen und keine Diener. Die Dame des Hauses, Joanna Champernoune, mußte demnach mit ihren Kindern woanders wohnen, vielleicht auf jenem anderen Gut, Trelawn, das der Verwalter an jenem Abend des mißlungenen Aufstands in der Küche von Kilmarth erwähnt hatte.
Roger ging ans Fenster, durch das die späte Sonne hereinschien, und blickte hinaus. Plötzlich drückte er sich flach gegen die Wand, als könne ihn von draußen jemand sehen. Ich trat neugierig neben ihn und erriet sogleich den Grund für seine Vorsicht. Unter dem Fenster stand eine Bank, auf der zwei Menschen saßen: Isolda und Otto Bodrugan. Ein Mauervorsprung verbarg sie vor fremden Blicken. Man konnte sie nur von diesem Fenster aus beobachten. Bodrugan hielt Isoldas Hand, betrachtete ihre Finger, küßte sie und lächelte verliebt.
Ich stand am
Weitere Kostenlose Bücher