Ein Tropfen Zeit
Vita fest, »und wenn ich baden will, springe ich vom Boot ins Wasser.«
Ich gähnte – die sofortige Reaktion auf Schuldgefühle. »Ich will mir ein bißchen die Füße vertreten«, sagte ich. »Nach den Pasteten ist es ohnehin noch zu früh zum Baden.«
»Wie du willst. Hier ist es herrlich. Die weißen Häuser da drüben sehen wunderhübsch aus, wie in Italien.«
Ich ließ sie bei ihrer Meinung und stieg mit den anderen ins Beiboot. »Setzen Sie mich da drüben links an der Ecke ab«, sagte ich zu Tom.
»Was hast du vor?« fragte Teddy.
»Spazierengehen«, erwiderte ich.
»Dürfen wir im Boot bleiben und Makrelen fischen?«
»Natürlich, das ist eine gute Idee.«
Ich sprang neben den Kühen an Land und war nun ganz frei.
Die Jungen waren ebenfalls froh, daß sie mich loswurden. Ich blieb stehen und sah, wie sie weiterruderten. Vita winkte vom Segelboot herüber. Ich drehte mich um und stieg bergauf.
Der Pfad verlief parallel zu einem Bach und wand sich dann an einer Hütte vorbei, hinter der das Meer außer Sicht kam. Von dort ging ich den Hang hinauf bis vor ein Tor zwischen alten Mauern und entdeckte die Ruinen einer Mühle. Ich trat durch das Tor und stand nun auf dem ehemaligen Bodrugan-Hof; links ein großer Teich, der wahrscheinlich den Mühlbach gespeist hatte, rechts das freundliche, mit Schiefer bedeckte Bauernhaus, vielleicht aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert, das Kilmarth erstaunlich ähnlich sah, und daneben aus Stein gemauerte Scheunen viel älteren Ursprungs; sie hatten gewiß schon im vierzehnten Jahrhundert zu Ottos Besitz gehört. Zwei Kinder spielten unter den Fenstern des Bauernhauses, aber sie beachteten mich nicht, und so wagte ich mich weiter über die Wiese und betrat dann eine Scheune mit steilem Dach.
Sie diente vermutlich schon seit Jahrhunderten als Kornkammer, aber vor sechshundert Jahren hatten hier vielleicht der Speisesaal und andere Räume gelegen, während die lange, niedrige Scheune auf der anderen Seite des Weges die Kapelle gewesen sein könnte. Es war ein weiträumiger Besitz, viel größer als das Gelände des ehemaligen Gutshauses der Champernounes, und ich begriff, daß Joanna, die hier als eine Bodrugan geboren und erzogen wurde, ihr neues Haus als armseligen Tausch empfinden mußte, als sie Henry Champernoune geheiratet hatte.
Ich verließ die Scheune, folgte den niedrigen Mauern, die den ganzen Hof umschlossen, und als ich zu den Hügeln aufstieg, öffnete sich wieder der Blick aufs Meer. Hier an der höchsten Stelle des Ackers war ein Erdhügel, auf dem sicher einst ein Hauptturm oder ein Vorposten gestanden hatte, der die Bucht beherrschte. Wie oft war Otto wohl fortgeritten und hatte von dem Turm aus zu den fernen Klippen hinübergesehen, die sich nach der Bucht von Tywardreath hin allmählich senkten; dort lag das Mündungsgebiet mit seinen engen Wasserarmen, von denen der erste ins Lampetho-Tal führte, der zweite bis an die Mauern der Priorei und der dritte nach Treesmill und zum Champernoune-Hof. An klaren Tagen konnte er all dies überblicken, vielleicht sogar das niedrige Haus von Kilmarth und das kleine Gehölz dahinter. Leider hatte ich das Fläschchen nicht dabei …
Ich ging langsam zum Strand zurück, erhitzt und müde. Merkwürdig, jetzt fiel es mir schwerer, meiner Familie gegenüberzutreten, als wenn ich tatsächlich eine Reise in die Zeit unternommen hätte. Ich fühlte mich matt und unzufrieden, und mich beschlich eine seltsame Furcht. Die Einbildungskraft genügte nicht; ich sehnte mich nach der lebendigen Erfahrung, die mir heute versagt blieb, weil ich die Droge nicht mitgenommen hatte. Auf dieser alten Stätte über den Klippen oder im Hof selbst hätten sich Szenen abgespielt, die ich nun nie erleben würde, und ich empfand bittere Enttäuschung.
Die Kühe waren fort. Die Jungen saßen auf dem Segelboot und tranken Tee. Ihre Badehosen lagen auf dem Mast zum Trocknen aus. Vita stand am Bug und fotografierte. Alle waren zufrieden und glücklich, nur ich blieb Außenseiter.
Ich hatte meine Badehose untergezogen; jetzt streifte ich die andere Hose ab und ging ins Wasser. Nach dem Spaziergang wirkte es zuerst kalt. Auf der Oberfläche trieb Seegras – die Blumen der ertrunkenen Ophelia. Ich drehte mich auf den Rücken und blickte in den Himmel, immer noch seltsam niedergeschlagen, beinahe in Weltuntergangsstimmung. Es würde mich ungeheure Mühe kosten, auf die Begrüßung der Familie einzugehen, zu schwatzen, zu lächeln und
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