Ein tüchtiges Mädchen
Alphabet gehen. Da haben wir also ,Annette’, ,Babette’, ,Colette’ und ,Dorette’, aber ich ahne nicht, wie man Nummer fünf nennen will.“
„Ich werde es sagen, wenn mir eine Idee kommt“, lachte Gerd. Dabei betrachtete sie die kleine Spielzeugkatze nachdenklich.
„Du sollst Dorette heißen, Pussy, das paßt genau.“
„Colette paßt besser“, widersprach Helge. „Du kennst doch die Französin Colette, Freundin aller Katzen?“
„Ja, aber ,Dorette’ heißt doch dein Schiff“, antwortete Gerd, und auf einmal war ihre Stimme so jung, vertrauensvoll und rührend kleinmädchenhaft.
6
Die Zeit war allzu rasch vergangen. Ehe sich Gerd umsah, war der Sonntag gekommen, und Helge begleitete sie zum Flugplatz.
„Hast du aber Dusel!“ lachte Helge. Es zeigte sich nämlich, daß das Flugzeug, das Gerd eigentlich nehmen sollte, voll besetzt war.
„Aber fünf Minuten später hat die Maschine aus New York eine Zwischenlandung hier – allerdings führt sie nur erste Klasse“, erklärte die hilfreiche Dame am Schalter. Also spendierte Gerd einige Mark extra, flog in der Luxusklasse und fühlte sich wie eine Millionärin.
Sie hatte die Tour über Oslo gewählt, um ihre Mutter und Solveig besuchen zu können. Sie würde dann den Nachtzug nach Kristiansand und von da den Bus nehmen. Auf diese Weise konnte sie pünktlich morgen früh im Büro sein.
Sie saß bequem in dem großen weichen Lehnstuhl und genoß den Luxus. Mit großen Augen sah sie, daß ein kleiner Tisch vor ihr aufgebaut und für einen delikaten Imbiß hergerichtet wurde. Stewards in weißen Jacken gingen mit Flaschen herum und boten Getränke an. Aber Gerd dankte mit einem lächelnden Kopfschütteln; sie wollte nicht mitten am Tag Alkohol trinken. Sie sah sich um und betrachtete die anderen Passagiere, die aus Amerika kamen. Gerd genoß diese Atmosphäre von langer Reise und großer Welt. Mit einem Male wurde es ihr bewußt, wie innig sie wünschte, daß Helge an ihrer Seite sitzen und sie alles mit ihm gemeinsam genießen könnte. Daß sie zusammen reden und reisen könnten, nicht heim, sondern weit, weit weg, in die große Welt.
Was hatte Helge gestern gesagt?
„Es ist merkwürdig, wie wir einander gleichen, Gerd. Wir haben denselben Geschmack, dieselben Wünsche, dieselbe Auffassung von allen möglichen Dingen. Fühlst du das nicht auch?“
Doch. Gerd fühlte ebenso. Sie fühlte es so stark, daß es sie fast erschreckte.
Gestern waren sie in Hagenbecks Tierpark gewesen, hatten den ganzen Tag da verbracht. Sie konnten sich gar nicht satt sehen an all dem Schönen. Gerd hatte vor Freude gejubelt, als sie vor der großen Grotte ein Löwenpaar mit zwei kleinen molligen Jungen entdeckten. Sie hatte Bären und Affen gefüttert und ein seidenweiches Eselfüllen gestreichelt. Zusammen hatten sie sich über ein Känguruhjunges amüsiert, das seiner Mutter in den Beutel hinein- und wieder herausschlüpfte. Und Hand in Hand hatten sie dagestanden und die Seehunde und Robben betrachtet, die sich spielerisch in ihren Wasserbecken tummelten.
Dazwischen plauderten, fragten und erzählten sie. Die Herbstsonne hatte über die goldenen und roten Farben der Bäume gestrahlt, der ganze Tag trug einen goldenen Glanz.
Und jetzt war es vorbei…
Aber – da war etwas, was Gerd nicht verstand: Warum hatte Helge kein Wort vom Wiedersehen gesagt? Warum hatte er nicht nach ihrer Adresse gefragt? Nun ja, er hatte die Büroadresse, aber trotzdem! Und Gerd kannte auch seine Adresse nicht. Da er auch nichts von einem Briefwechsel erwähnte, wäre Gerd die allerletzte gewesen, die – nein, eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als aufdringlich scheinen.
Aber – es war doch merkwürdig. Denn niemand sollte behaupten, daß Helge nicht mehr für sie fühlte als für irgendeine andere x-beliebige nette Reisebekanntschaft.
Sollte dies aber doch der Fall sein, so verstand sie überhaupt nichts von Männern. Wenn alles, was er gesagt hatte, die zahlreichen Händedrücke, nur landläufige Galanterie gewesen war, die man einem hübschen jungen Mädchen beinahe schuldete, ja, dann wußte Gerd überhaupt nicht, was sie denken sollte.
Alles, was er gesagt hatte - Vielleicht war das gar nicht so viel. Aber hinter den kleinen Worten lag eine zärtliche Wärme, und es lag auch etwas in seinem Blick, diesem festen Blick der blauen Augen.
Und doch: Warum hatte er mit keinem Wort angedeutet, daß er sie gern daheim in Norwegen wiedersehen wollte?
Nun ja…
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