Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
die Andeutung eines Lächelns. »Im doppelten Sinn«, fügte ich hinzu, um ihr auf die Sprünge zu helfen.
»Auf jeden Fall. Haben den Krach ganz abgestellt. Denken Sie an meine Worte, Mr. Ripple.« Hier musterte sie mich von oben bis unten, als wäre ich es, dem sie Gottesfurcht beibringen wollte. »So schlampig. Als ich studierte, hatten wir noch ein bißchen Stolz, von Selbstrespekt ganz zu schweigen.«
Während ich mir noch überlegte, was in ihrem Fall der Unterschied zwischen den beiden sein könnte, fiel mir ein, daß sie vielleicht einen Dank erwartete.
»Was wäre unsere Straße bloß ohne Sie?« fragte ich und trat einen großen Schritt zur Seite, um ihr möglichst auffällig Platz zu machen.
»Ein bißchen Gottesfurcht beibringen«, wiederholte sie. »Man hat die Pflicht, etwas zu sagen. Das ist eine ehrbare Straße. Man kann sich doch nicht von jedem x-beliebigen auf der Nase herumtanzen lassen.«
»Aber deswegen muß man doch nicht gleich den Allmächtigen bemühen, oder?«
Sie wußte nicht, wie sie darauf reagieren sollte, auch auf die Schmeichelei, die mitschwang, vor allem aber, weil ihr nicht klar war, ob ich vielleicht ein Tiefgläubiger war, der sich von einer solchen Blasphemie beleidigt fühlte. Ich versuchte, sie mir als Studentin mit ein bißchen Stolz vorzustellen, schaffte es aber nicht, denn was sie hatte, war eine ganz unglaubliche Menge davon. Sie ging bereits weiter, drehte sich aber noch einmal um.
»Waren Sie eigentlich auf der Universität, wenn ich das fragen darf, Mr. Ripple?«
Ich seufzte. »Ach ja, das waren noch Zeiten!«
Sie war im Begriff, mich zu fragen, auf welcher und was ich studiert hatte; wenn nicht gleich jetzt, dann irgendwann später. Das mußte verhindert werden. Ich hätte alles getan, um ihr diese überhebliche Miene vom Gesicht zu wischen. Was ich antwortete, war dennoch unbedacht. »Christchurch College, Oxford. Geschichte, um genau zu sein.«
Ich war mir nicht sicher, ob es dieses College in Oxford überhaupt gab, aber es klang sehr vertraut. Für sie offensichtlich auch.
»Ach, das Haus!« rief sie. Ich schaute mich um und fragte mich, welches sie meinte. »Mein Mann war auch Historiker. Am Oriel. Sie beide sollten sich zusammentun. Ja, das war damals noch echte Bildung. Die sogenannten Fächer, die sie heutzutage studieren: Umwelt-Dies, Medien-Das, Feminismus-Sonstwas.«
Wieder musterte sie mich von Kopf bis Fuß, aber jetzt wohlwollend,
als würde sie eine Uniform erkennen; plötzlich war ich zum Gelehrten und Exzentriker geworden. Wir gehörten zur gebildeten Klasse. Wie sehr hatte ich mir manchmal gewünscht, ich wäre auf der Universität gewesen; dabei hatte ich gerade mal ein mittelprächtiges Abitur vorzuweisen. Nicht nur, daß ich jetzt mehr wüßte, ich hätte auch gelernt, mich besser auszudrücken oder problemloser zu formulieren, wobei das nicht immer dasselbe sein muß. Sie schien auf eine Antwort zu warten, vielleicht eine Bemerkung zu ihrem Mann.
Was tut man, wenn man merkt, daß eine kleine Lüge große Wirkung hat? Um den Schein zu wahren, redet man sich um Kopf und Kragen. »Ja, ja, die Colleges damals in Oxford. Da gab’s ganz schöne Rivalitäten. Man war sich nicht grün, und manchmal schlug man sich ein blaues Auge. Wobei nicht jeder mit selbigem davonkam.«
Sie starrte mich mehr als verwundert an. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich eigentlich redete. Was soll’s, dachte ich. Jetzt ist eh alles zu spät. Doch plötzlich wich die Perplexität einem breiten Lächeln, und sie drückte meinen Unterarm.
»Witzbolde wart ihr schon immer, ihr Jungs. Oje, oje, oje. Nicht grün, aber blaue Augen. Das muß ich Cedric erzählen.«
Mit einem Auflachen und einem letzten Drücken meines Arms eilte sie davon. Jetzt war ich also ein gebildeter Mann und außerdem noch ein Witzbold. Dazu nun eine kurze Abschweifung. Eins muß ich meiner früheren Frau zugute halten, nämlich daß sie mir nie das Gefühl gab, weniger gebildet zu sein als sie, weniger moralisch vielleicht, das sogar mit ziemlicher Sicherheit, wenn auch unbeabsichtigt, aber nicht dumm. Ein zentraler Aspekt überlegener Moralität scheint der zu sein, daß man sich selbst nicht als moralisch überlegen betrachten, nicht die eigene Moralität höher als die der anderen bewerten sollte. Ein zentraler Aspekt moralischen Unterlegenseins, sofern man sich dies eingesteht, besteht darin, daß man die eigenen Gedanken und das eigene Verhalten niederer bewertet als das der moralisch
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