Ein unbeschreibliches Gefuehl
die reine, von allem eigenen Vorteil absehende Gottesliebe für seine Zeit zu begründen, und das heißt: unter den kritischen Blicken einer Vernunft, die sich bereits auf sich selbst und ihre eigenen Kräfte besonnen hatte. Wie die Mystiker fand Fénelon in der Selbstaufgabe den Schlüssel. Der Tod des eigenen Ich bringt die glückliche Vereinigung mit dem geliebten Ziel (also Gott). Diesen Tod aber kann man nach Fénelon bereits zu Lebzeiten erreichen, nämlich indem man sich, im Bewusstsein der eigenen Verdammnis, ganz Gott hingibt.
Seine Erkenntnis verdankte Fénelon, Politiker, Bischof und Seelsorger im Dunstkreis des Versailler Hofs von Ludwig XIV., übrigens einer im Wortsinn frommen Seele: der etwa gleichaltrigen Madame de Guyon. Diese war eine Vertreterin des Quietismus, einer ganz auf die Innerlichkeit ausgerichteten Sonderform der Mystik. Mit ihren visionären Erlebnissen und den daraus resultierenden Einsichten hat die Guyon nicht nur Landsleute wie Fénelon und die Madame de Maintenon, eine Maitresse von Ludwig XIV., beeinflusst, sondern ebenso den deutschen Pietismus.
In Fénelons Briefen sprengt die Liebe zu Gott, die nicht aus eigener Kraft erreicht, sondern als Geschenk von Gott empfangen werden muss, alle Maßstäbe: »Deshalb findet die Seele, die sich nicht mit sich selbst beschäftigt und die sich für nichts erachtet, in diesem Nichts die Unendlichkeit Gottes selbst: Sie liebt ohne Maß, ohne Ziel, ohne menschliches Motiv; sie liebt, weil Gott, die unermessliche Liebe, in ihr liebt.« Maßlosigkeit ist das entscheidende Stichwort. Wer erst einmal diese unermessliche Liebe Gottes erfahren hat, dem genügt die irdische Liebe nicht mehr. »Misstrauen Sie sich selbst und allen Geschöpfen zugleich«, schreibt Fénelon folgerichtig an einen Briefpartner. »Das ist nur ein Nichts, welches dem Herzen des für Gott geschaffenen Menschen nicht genügen könnte.« Die Begeisterung, mit der Fénelon die einzig wahre Liebe preist, weckt den Verdacht, es könne hier doch auch, entgegen aller Absicht, um einen Genuss gehen – den Genuss der religiösen Inbrunst nämlich! Das Bemühen darum, das eigene Ich in einer wie auch immer gearteten Liebe zu verlieren, es scheint zuletzt doch wieder zu diesem Ich zurückzukehren. Vielleicht können wir uns einfach nicht verlieren, ohne uns zugleich doch immer wiederzufinden.
Mit den Augen der Seele sehen
W ir sind ihm schon kurz begegnet: Marsilio Ficino, dem Erfinder des Begriffs »platonische Liebe«. Für ihn richtet sich eine ideale Liebe auf das Schöne – das aber rein geistig gemeint ist. Ficino wirkte im 15. Jahrhundert in Florenz, der vom Medici-Clan beherrschten Stadtrepublik der Renaissance. Auch er war von der Antike beeinflusst, besonders von Platon, den er natürlich durch die Brille des Neuplatonismus las. Für Marsilio Ficino hat sich Gott, gut neuplatonisch gedacht, vor aller Zeit in den materiellen Kosmos hinein ergossen, in jeweils unterschiedlicher Intensität in Lebloses, Pflanze, Tier und Mensch. Indem der Mensch diese göttliche Schönheit in der Welt entdeckt, kann er, dadurch inspiriert, die Welt hinter sich lassen und wieder zu Gott hinaufsteigen.
Worauf immer sich die Liebe des Menschen also richtet: Letztlich muss sie das Schöne im jeweiligen Liebesobjekt erkennen – und damit das Göttliche. Dann ist sie die wahre, die »platonische« Liebe. Von Ficino stammt dieser bis heute bekannte Begriff. Für den Florentiner ist die platonische Liebe mitsamt der Schönheit das diametrale Gegenteil der sexuellen Liebe – diese sei nämlich an die Hässlichkeit gekoppelt: »Die Schönheit der Seele ist nur geistig erkennbar, die körperliche nur durch das Auge und die der Töne nur durch das Ohr wahrnehmbar. Da nun der Geist, das Gesicht und das Gehör die Mittel sind, durch die allein wir die Schönheit genießen können, und da die Liebe das Verlangen ist, die Schönheit zu genießen, so findet sie stets durch den Geist, das Gesicht und das Gehör ihre Befriedigung. Wozu könnten ihr auch der Geruch, der Geschmacks- und der Tastsinn dienen, da diese Sinne ja nur Geruchs- und Geschmacksempfindungen, das Gefühl von Kälte und Wärme, Härte und Weichheit vermitteln? In nichts von alledem besteht die menschliche Schönheit«, so präzisiert Ficino sein Verständnis der wahren, der platonischen Liebe. Kurz gesagt: Denken, Reden und Hören ja, Anschauen ja, Anfassen nein. Denn: »Die Raserei der Wollust führt den Menschen zur
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