Ein unbeschreibliches Gefuehl
seinem nur kurzen Leben übrigens ein gefährliches Abenteuer beschert. Als 23-Jähriger brach er nach Rom auf, um vor dem Papst die Vereinbarkeit aller Philosophie mit dem Christentum darzulegen. Bei einem Halt in Arezzo – es war im Liebesmonat Mai – verliebte er sich in eine verheiratete Frau und entführte sie mit ihrer Zustimmung. Der Ehemann, fatalerweise ein Medici, ließ die beiden verfolgen, Pico wurde gefangen genommen und verwundet. Erst nach Intervention durch den mächtigen Lorenzo I. de’ Medici, Picos Gönner in Florenz, wurde der junge Heißsporn schließlich wieder freigelassen.
Diese Ereignisse sind lange her. Wir Heutigen verdanken Pico della Mirandola die wichtige Erkenntnis, dass es auf den Blick ankommt, mit dem jemand angeschaut wird, damit Liebe entstehen kann. Und dieser Blick wiederum, das sagt Pico ebenso wie Ficino, ist nur auf der Grundlage von Ähnlichkeit möglich. Das bedeutet: Nur was mir gleicht, kann ich wirklich erkennen. Oder andersherum: Indem ich mich selbst im anderen erkenne, kann ich ihn lieben. Nicht in dem Sinne, dass ich meine eigenen guten wie schlechten Erfahrungen auf den anderen projiziere. Sondern indem ich bei ihm das wiedererkenne, worin wir uns in unseren Stärken und Schwächen gleichen – und worin wir uns gerade deshalb gut verstehen. »Gleich und gleich gesellt sich gern«, sagt der Volksmund. Philosophisch überhöht und poetisch gewandet, sagen Ficino und Pico dasselbe.
Sich selbst im anderen wiederzuerkennen setzt aber voraus, dass man sich in gewisser Weise selbst kennt. Sonst geschieht, was Psychologen heute als Projektion bezeichnen: Das, womit man nicht klarkommt, wird in den anderen hineinverlagert und dort bekämpft. Doch darum geht es gerade nicht. Sondern um den unverstellten Blick auf das geliebte Gegenüber, um den Blick, der in zwei Lebensläufen ein ähnliches Grundmuster erkennt, die Spuren von Glück und Unglück, von Spontaneität, Verletzlichkeit und Vertrauen.
Bei Ficino und Pico, den Renaissancedenkern, ist der Blick des Liebenden noch auf das Schöne gerichtet, das zugleich das Göttliche ist. Wir dürfen gespannt sein, was daraus wird, wenn sich die Philosophie und mit ihr das Nachdenken über die Liebe von der religiösen Ausrichtung vollends emanzipiert haben.
Doch zuvor müssen wir noch etwas anderes in den Blick nehmen: die Erfahrung. Ihr Stellenwert in der Philosophie ist veränderlich, wie bereits der Unterschied zwischen Platon und Aristoteles gezeigt hat. In den Mythen, in den Systemen der griechische Antike und den religiös überformten Denkgebäuden des Mittelalters steht sie eigentlich an zweiter Stelle. Auch wenn sich, wie wir gesehen haben, viele philosophische Aussagen über die Liebe an der Erfahrung bewahrheit haben. Mit dem Beginn der Neuzeit gewinnt die Erfahrung nun zunehmend an Boden. Und was passiert? Der Tonfall wird abgeklärt, bisweilen sogar warnend. Als ob der Mensch, je mehr er über sich selbst weiß, in Liebesdingen desto skeptischer wird …
Spielball der Begierde
W enn ich die Bücher beiseitelege und handgreiflicher, einfacher rede, dann finde ich schlussendlich, dass die Liebe nichts anderes ist als die Begierde, den gewünschten Gegenstand zu genießen, und Venus nichts anderes als das Vergnügen, seine Gefäße auszuleeren. Dieses Vergnügen entartet durch Unbeherrschtheit oder Übertreibung.«
Der Verfasser dieser illusionslosen Zeilen lebte im 16. Jahrhundert und war keineswegs ein Verächter der Venus. Michel Eyquem de Montaigne, französischer Landadliger, Jurist und Schriftsteller, schätzte das Vergnügen der Liebe durchaus. Er war verheiratet, zeugte sechs Töchter, von denen leider nur eine das Erwachsenenalter erreichte, und hatte auf seinen ausgedehnten Reisen durch Deutschland und Italien die eine oder andere Bettgeschichte. So etwa in Rom, das er 1581 besuchte. Dort stand der Humanist und dogmenkritische Freidenker staunend vor der Inbrunst, mit der die Menschen die Religion praktizierten – wir befinden uns im Zeitalter der Gegenreformation. Einmal lag Montaigne bei einer römischen Prostituierten, als die Frau plötzlich aufsprang, sich zu Boden warf und voller Inbrunst eine Litanei begann: Das Angelusläuten hatte zum Abendgebet gerufen …
Derlei Episoden wie auch seine Schlussfolgerungen daraus nahm Montaigne in seine »Essais« (dt. »Versuche«) auf. In diesen Texten werden ganz subjektiv und ohne Anspruch auf ewigen Wahrheitsbesitz Denk- und
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