Ein unbeschreibliches Gefuehl
Argumentationsmöglichkeiten zu verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Fragen durchgespielt, um den Leser zum Nachdenken anzuregen. Montaigne hat mit den »Essais« eine eigene literarische Gattung begründet. Zwei erste Bände erschienen 1580, bei der fünften Auflage 1588 war die Sammlung dann vollständig. Ihr Verfasser überarbeitete und erweiterte die »Essais« bis zu seinem Tod immer wieder.
Maßvollen Genuss empfiehlt Montaigne also seinen Lesern in Liebesdingen, er warnt vor Übertreibung. Warum? Weil der Mensch letztlich nicht vernünftiger ist als ein Tier und bei mangelnder Vorsicht rasch Spielball der eigenen Begierden wird: »Es gibt keine noch so erlaubte Wollust, deren unmäßiger Genuss uns nicht zum Vergehen angerechnet werden müsste. Ganz aufrichtig gesprochen aber, ist der Mensch nicht ein armseliges Tier? Kaum steht es, in seinem natürlichen Zustand, in seiner Macht, ein einziges Vergnügen ganz und rein zu genießen! Und dabei gibt er sich noch Mühe, ihrer aus Überlegung zu entbehren! Als ob er noch nicht elend genug wäre, wenn er sein Elend nicht noch durch Kunst und Nachsinnen vermehrte?«
Das sind ganz neue Töne. Wir lesen bei Montaigne nichts von Sünde, aber auch nichts von Inspiration durch die Schönheit. Auf die veredelnde Wirkung der Kultur und der Ideale mag der Verfasser der »Essais« nicht vertrauen. Natürlich kennt er seinen Platon und dessen »Gastmahl«: »Für Sokrates ist die Liebe die durch Schönheit erweckte Begierde zu zeugen.« Aber er selbst sieht das entschieden anders: »Nun betrachte ich den lächerlichen Kitzel bei diesem Vergnügen, die absurden, gedankenlosen und leichtsinnigen Bewegungen …, diese übertriebene Raserei, dieses von Wut und Grausamkeit entflammte Gesicht bei der zartesten Regung der Liebe, diese feierliche, strenge und verzückte Überheblichkeit bei einer so verrückten Handlung …« Nicht umsonst verkrieche sich der Mensch, wenn er zeugen wolle, in den finstersten Winkel, während das gegenseitige Töten in aller Öffentlichkeit stattfinde.
Die Liebe maßvoll zu genießen, dazu gehört für Montaigne die Selbsterkenntnis. Über sich selbst weiß er dann auch gut Bescheid und hält damit in den »Essais« nicht hinterm Berg, etwa wenn er feststellt: »Venus und Bacchus kommen gerne zusammen, wie das Sprichwort sagt. Bei mir aber ist Venus lebhafter, wenn sie von der Nüchternheit begleitet ist.« Hier zeigt sich: Montaignes Selbsterkenntnis setzt die Selbstbeobachtung voraus. Sie ist der einzige Weg, auf dem wir etwas über uns und das Wesen aller Dinge erfahren können, denn: »Letzten Endes gibt es überhaupt kein beständiges Sein, weder in unserem Wesen noch im Wesen der Dinge. Auch wir und unser Urteil und alle sterblichen Dinge fließen und wogen unaufhörlich dahin.« Die Vergänglichkeit bedroht nicht nur das Leben des Menschen, sondern stellt auch dessen Erkenntnismöglichkeiten in Frage.
Montaignes Skepsis bezieht sich nicht nur auf jene Dinge, die metaphysisch genannt werden können, etwa das platonische Reich der Ideen. Er misstraut auch der wissenschaftlichen Erforschung der Natur, die zu der Zeit gerade am Anfang ihrer Entwicklung steht, und greift hierin die Skepsis der Antike wieder auf, was die Verlässlichkeit der Sinneserfahrungen und ihrer Auswertung betrifft. Auch Platon hatte ja schon davon gesprochen, dass wir die Wahrheit nur undeutlich erkennen können. Konsequenz dieser Skepsis ist für Montaigne jedoch nicht die Resignation, sondern der Entschluss, im ethischen Handeln so etwas wie Orientierung in einer undurchsichtig gewordenen Welt zu schaffen. Voraussetzung dafür ist die Selbsterkenntnis, die sich durch Selbstbeobachtung und kritische Analyse der eigenen Erfahrungen einstellt. Sie führt zu innerer Unabhängigkeit und Sicherheit und zu jener maßvollen Haltung, die bereits in der Antike von den Stoikern zur Perfektion gebracht worden ist. »Maßhalten«, so heißt ein entscheidendes Stichwort.
Zum Maßhalten in Liebesdingen gehört für Montaigne auch, die Liebe nicht mit Dingen zu befrachten, die mit ihr nichts zu tun haben – also mit Werten wie der Freundschaft etwa. Denn die Liebe ist vergänglich, so sagt er. Wenn das Begehren gestillt ist, verlischt ihr Feuer. Freundschaft aber ist geistig und baut auf Beständigkeit auf. Für Montaigne ist sie ausschließlich zwischen Männern möglich: »Dazu kommt, um ehrlich zu sein, dass Frauen normalerweise nicht ausreichend ausgestattet sind, um
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