Ein unbeschreibliches Gefuehl
Voltaire schwanger geworden war. Voltaire betrauerte sie tief, obwohl er zu dem Zeitpunkt bereits mit seiner Nichte Marie Louise Mignot, verwitwete Denis, ein Verhältnis hatte, das Jahrzehnte andauern sollte. Voltaires Kosewort für diese Geliebte lautete übrigens »Maman«.
Der geistreiche Franzose hat an die hundert Bände mit rund 700 Einzeltexten hinterlassen – Romane und Erzählungen, Theaterstücke, Essays, Sachtexte und Briefe. Unter anderem korrespondierte er mit Friedrich II. von Preußen, dem Großen, mit dem er sich später aber zerstritt. Auf eine Tafelrunde beim preußischen König geht angeblich auch die Idee zu einem philosophischen Werk zurück, das zu allen wichtigen Themen die Position der Aufklärung gegen die herkömmlichen kirchlichen Aussagen stellen sollte. Denn Voltaire, der als Deist rein aus Vernunftgründen die Existenz eines Gottes annahm, schlug sich zeitlebens mit der Kirche und ihrem Anspruch herum, die Deutungshoheit für alle Bereiche des menschlichen Lebens zu besitzen.
Ob nun besagte Idee zugrunde lag oder nicht – 1764 erschien jedenfalls erstmals Voltaires »Dictionnaire philosophique portatif«, das »Tragbare philosophische Wörterbuch«, herausgegeben in Genf. Unter dem Stichwort »Amour« schreibt Voltaire darin: »Es gibt so viele Arten der Liebe, dass man nicht weiß, wohin man sich wenden soll, um eine Definition zu erhalten. Eine wenige Tage währende Laune nennt man kühn Liebe, ein Verhältnis ohne tiefere Bindung auch, ein Gefühl ohne Hochachtung ebenso, … eine kühle Gewohnheit, eine romantische Phantasie, ein Genuss, auf den rasch Abscheu folgt: Millionen von Trugbildern gibt man diesen Namen.« Das klingt erst einmal recht entlastend. Nach so vielen Denkern, die zu wissen beanspruchten, was Liebe sei und vor allem, was die wahre und was die falsche, gibt hier jemand Entwarnung: Beruhigt euch, sagt Voltaire, es herrscht ein solches Durcheinander, dass keine Position die absolute Wahrheit für sich beanspruchen darf.
Doch woran soll man sich halten, wenn alle Festlegungen als Trugbilder entlarvt worden sind? Voltaires Antwort lässt den aufgeklärten Philosophen erkennen, der die Welt ringsum und den Menschen mittendrin betrachtet – und vergleicht: »Möchtest du eine Ahnung von der Liebe haben? Dann schau die Spatzen in deinem Garten an, sieh deine Tauben, betrachte den Stier, den man zu deiner Färse bringt, schau den stolzen Hengst an, den zwei seiner Stallburschen zu der friedlichen Stute führen, die ihn erwartet und ihren Schweif fortdreht, um ihn zu empfangen … Du aber sei auf all das nicht neidisch, sondern bedenke die Vorteile der menschlichen Gattung – in der Liebe wiegen sie alles auf, was die Natur ansonsten den Tieren an Kraft, Schönheit, Leichtigkeit und Schnelligkeit mitgegeben hat.« Denn einzig der Mensch, so Voltaire, kann die Lust mit all seinen Sinnen empfinden. Nur der Mensch kennt die Umarmung, und nur seine Lust ermüdet nicht für lange, weil sie sich immer wieder neu entfachen lässt, statt an Paarungszeiten gebunden zu sein.
Einzig der Mensch ist auch in der Lage, das, was ihm die Natur oder auch die Gottheit mitgegeben hat, noch zu perfektionieren: durch Körperpflege etwa und durch Sorge für die eigene Gesundheit. Und dann kommt ein entscheidender Satz: »Wie Metalle, die sich mit dem Gold verbinden, so münden schließlich alle anderen Gefühle in das der Liebe: Freundschaft und Wertschätzung eilen zu Hilfe, und die Gaben des Körpers und des Geistes wirken ebenfalls verbindend.« Seit Aristoteles hatten die Philosophen eine Trennlinie zwischen Liebe und Freundschaft gezogen und Letztere als die Beständigere und Wertvollere von beiden angesehen. Voltaire nun aber scheut sich nicht, Liebe und Freundschaft miteinander zu verknüpfen: Freundschaft und Wertschätzung zu empfinden, das stärke und vertiefe die Liebe, das verleihe ihr zusätzlich Beständigkeit. Ob für diese Aussagen die Erfahrungen von Ebenbürtigkeit und geistigem Austausch eine Rolle gespielt haben, die Voltaire in der Beziehung zu Émilie du Châtelet erlebt hat? Es könnte ja sein …
Jedenfalls ist dies ein höchst ganzheitliches Liebesmodell! Eines, das die Sinnlichkeit ebenso einschließt wie die geistige Verbindung. Und Voltaire ist noch dazu Realist: Er verabschiedet die Illusion, dass nur das Hohe, Ewige verdienen würde, Liebe zu heißen. Er schaut sich den Sprachgebrauch an, entdeckt, dass auch kurzlebige Affären und Strohfeuer als
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