Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Wangen stieg. Wie gut, dass er im Dunkel der Nacht weder ihr Erröten noch ihren Gesichtsausdruck sehen konnte. Denn in ihrer überbordenden Fantasie entstanden erneut anrüchige Bilder des Burgherrn. Herrje! „Ich wollte Sie nicht stören."
Sie wandte sich ab, um in die Burg zurückzukehren, doch wieder ließ seine Stimme sie innehalten.
„Bleiben Sie."
Abwartend sah sie zu ihm hinüber. Er stand noch immer mit dem Rücken zu ihr, blickte sich jedoch zu ihr um.
Er räusperte sich. „Bleiben Sie, und reden Sie mit mir, Mrs Halifax!"
Sein Ton war herrisch, es war keine Bitte, und doch schien es Helen, als höre sie in der barschen Stimme einen flehenden Unterton. Und der bewegte sie zu bleiben.
Sie trat näher. „Worüber möchten Sie reden?"
Längst hatte er sich wieder abgewandt und meinte achselzuckend: „Finden Frauen nicht immer etwas zum Reden?"
„Sie meinen die neuesten Moden und Gerüchte und derlei Bedeutsames mehr?", fragte sie liebenswürdig.
Er zögerte, vielleicht irritiert vom leisen Spott in ihrer Bemerkung. „Tut mir leid."
Wie bitte? Gewiss hatte sie sich verhört. „Was sagten Sie?”
„Ich bin die Gesellschaft zivilisierter Menschen nicht gewohnt, Mrs Halifax. Verzeihen Sie bitte."
Nun war es an ihr, sich unbehaglich zu fühlen. Der arme Mann trauerte um seine treue Gefährtin; da war es nicht nett von ihr, so schnippisch zu sein. Das passte nicht zu ihr, die sie die letzten vierzehn Jahre davon gelebt hatte, sich den Launen und Bedürfnissen eines nicht gerade einfachen Mannes zu fügen. Was war nur in sie gefahren?
Wunderliche Gedanken, die ihr da kamen. Helen verdrängte sie rasch, ging einen Schritt auf Sir Alistair zu und suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. „Ich fand die Fleischpastete heute Abend sehr lecker."
„Allerdings." Er räusperte sich. „Mir ist aufgefallen, dass der Junge zwei Portionen verdrückt hat."
„Jamie."
„Hmm?"
„Er heißt Jamie", stellte sie klar, doch ohne vorwurfsvoll zu sein.
„Schön, dann eben Jamie." Er trat von einem Bein aufs andere. „Wie geht es Jamie?"
Sie sah zu Boden. „Er hat sich in den Schlaf geweint."
„Ah."
Helen schaute hinaus in die mondbeschienene Landschaft. „Welch eine Wildnis."
„Es war nicht immer so." Wenn er so leise sprach, hatte seine raue Stimme fast etwas Tröstliches. „Früher erstreckte sich hier ein Garten bis hinunter an den Bach."
„Was ist passiert?"
„Der Gärtner ist gestorben, ein neuer wurde nie eingestellt."
Helen runzelte die Stirn. Jetzt, wo sie es wusste, konnte sie im silbrigen Mondschein tatsächlich eine alte Terrassenanlage erkennen, doch alles war völlig überwuchert und zugewachsen. „Wann ist der Gärtner denn gestorben?"
Sir Alistair legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sternen hinauf. „Vor siebzehn ... nein, vor achtzehn Jahren, wenn ich mich recht entsinne."
Ungläubig sah sie ihn an. „Und seitdem hatten Sie hier keinen Gärtner mehr?"
„Nein, wozu? Es schien nicht nötig zu sein."
Daraufhin schwieg er. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Helen fragte sich, wie oft er schon nachts hier gestanden haben mochte, einsam und allein, und den Blick über seinen verwilderten Garten hatte schweifen lassen.
„Haben Sie ..."
Er wandte den Kopf. „Ja?"
„Verzeihen Sie." Oh wie gut, dass die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg! „Haben Sie nie geheiratet?"
„Nein." Nach kurzem Zögern setzte er brüsk hinzu: „Ich war verlobt, aber sie ist gestorben."
„Das tut mir leid."
Er machte eine Bewegung, vielleicht ein unwilliges Schulterzucken. Ihr Mitleid brauchte er wirklich nicht.
Aber sie konnte nicht anders. „Und Familie haben Sie auch nicht?"
„Doch, eine ältere Schwester. Sie lebt in Edinburgh."
„Nun, das ist ja nicht so weit entfernt. Gewiss sehen Sie einander oft."
Mit leiser Wehmut dachte sie an ihre eigene Familie. Seit sie zu Lister gegangen war, hatte sie keinen von ihnen mehr gesehen, weder ihre Mutter und ihre Schwestern noch ihren Bruder oder Papa. Welch hohen Preis sie für ihre romantischen Träume gezahlt hatte!
„Ich habe Sophia seit Jahren nicht gesehen", erwiderte er.
Jäh aus ihren Gedanken gerissen, betrachtete sie sein dunkles Profil, versuchte seine Züge zu erkennen, seine Miene zu deuten. „Haben Sie sich zerstritten?"
„Nichts dergleichen.” Seine Stimme war kalt geworden. „Ich pflege nur nicht viel zu reisen, Mrs Halifax, und meine Schwester sieht keinen Grund, mich zu besuchen."
„Oh!" Sie war
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