Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
angehaltenem Atem, bis er verschwunden war, dann fuhr sie ihren Bruder an: „Jamie! Du weißt, dass wir das nicht sagen dürfen."
„Er hat Schnösel zu mir gesagt!", ereiferte sich Jamie. „Und es stimmt doch, der Duke ist unser Vater!"
„Aber das darf niemand wissen."
„Ich will hier nicht bleiben, hier ist es doof! ", brüllte Jamie und rannte mit gesenktem Kopf aus dem Hof.
„Nicht so stürmisch!" Sir Alistair fing Jamie mit einem Arm auf.
„Lassen Sie mich los!"
„Gut." Sir Alistair hob beschwichtigend die Hände, und schon war Jamie frei. Allerdings schien er nicht so recht zu wissen, was er mit seiner Freiheit anfangen sollte. Mit noch immer gesenktem Kopf stand er da und schob schmollend die Unterlippe vor.
Sir Alistair betrachtete ihn einen Augenblick, dann schaute er fragend zu Abigail hinüber. Das dunkle Haar hing ihm wirr ins Gesicht, seine hässlichen Narben waren in der Sonne besonders gut zu sehen, und Kinn und Wangen waren voller Bartstoppeln. Aber er machte ihr längst nicht so viel Angst wie Mr Wiggins.
Abigail trat verlegen von einem Bein aufs andere. „Wir klopfen Teppiche aus." Sie deutete vage auf die Leine hinter sich.
„Das sehe ich." Sir Alistair richtete seinen Blick wieder auf Jamie. „Ich wollte auch nur kurz in den Stall, einen Spaten holen."
„Wofür?", schniefte Jamie.
„Um Lady Grey zu begraben."
Jamie zog die Schultern hoch und trat einen Stein weg.
Alle schwiegen einen Moment.
Schließlich rang Abigail sich durch und stammelte: „Es ... es tut mir leid."
Sir Alistair sah sie an, mit seinem einen Auge, und seine Miene war keineswegs freundlich. Aber Abigail nahm all ihren Mut zusammen und wollte es hinter sich bringen, ehe Angst und Peinlichkeit sie wieder lähmten und sie kein Wort über die Lippen brächte. „Es tut mir leid wegen Lady Grey, und es tut mir leid, dass ich geschrien habe."
Er blinzelte verwundert. „Wie bitte?"
Sie holte tief Luft. „Am ersten Abend, als wir angekommen sind. Es tut mir leid, dass ich geschrien habe. Ich hätte nicht schreien sollen. Das war nicht nett von mit"
„Oh, das ... ja, danke." Er sah zur Seite und räusperte sich. Dann herrschte wieder Schweigen.
„Dürfen wir Ihnen helfen?", fragte Abigail. „Lady Grey zu begraben, meine ich."
Sir Alistair zog die Brauen zusammen, was wegen seiner Augenklappe besonders finster aussah. „Wollt ihr das denn?"
„Ja", sagte Abigail tapfer.
Jamie nickte nur.
Schweigend sah Sir Alistair sie an, dann nickte auch er. „Na dann. Wartet hier."
Er verschwand in den Stallungen und kam kurz darauf mit einem Spaten zurück. „Kommt!"
Ohne sich noch einmal nach ihnen umzuschauen, marschierte er los.
Abigail legte ihren Besen weg und folgte ihm mit Jamie. Verstohlen sah sie ihren Bruder von der Seite an. Er hatte Tränen in den Augen. Gestern Abend hatte er sich so lange in den Schlaf geweint, dass ihr selbst ganz weh ums Herz geworden war. Sie runzelte die Stirn und schaute wieder nach vorn auf den Weg. Holperig und zerklüftet war es hier, und man musste aufpassen, dass man nicht stolperte. Sir Alistair führte sie durch den alten Garten hinunter zum Bach. Abigail war auch nach Weinen zumute, was natürlich dumm war, denn sie hatten Lady Grey ja kaum gekannt. Sie wusste nicht mal, warum sie gefragt hatte, ob sie mithelfen dürften, den Hund zu begraben.
Am Ende des Gartens war eine ungemähte Wiese. Sir Alistair stapfte durch das hohe Gras voraus, und Abigail konnte schon das Rauschen des Baches hören. Etwas weiter oben donnerte der Wasserlauf weiß schäumend über Fels und Gestein, aber unten im Garten plätscherte der Bach ruhig und still dahin. Im Schatten einiger Bäume lag ein Teppichbündel.
Abigail schaute rasch wieder weg; der Hals war ihr wie zugeschnürt.
Aber Jamie lief geradewegs darauf zu. „Ist sie da drin?"
Sir Alistair nickte.
„Schade um den schönen Teppich", murmelte Abigail.
Sir Alistair richtete sein hellbraunes Auge auf sie. „Auf diesem Teppich hat sie gern bei mir im Turmzimmer vor dem Kamin gelegen."
„Oh", sagte Abigail und wandte beschämt den Blick ab.
Jamie hockte sich hin und streichelte den zerschlissenen Teppich so innig, als wäre er warmes, weiches Hundefell. Sir Alistair stieß den Spaten in den Boden und begann am Fuß des Baumes zu graben.
Abigail ging näher ans Ufer. Das Wasser war klar und kühl. Ein paar Blätter trieben träge auf der Oberfläche. Vorsichtig kniete sie sich hin und betrachtete die Steine am Grund des
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