Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
können wir essen. Bestimmt geht es uns dann gleich besser."
Alistair sah sie über Abigails Kopf hinweg an. Noch immer schien er sich nicht ganz gefasst zu haben. In seinem Auge funkelte die rohe Gewalt. Eben, als sie hinunter in die Halle gekommen war, war er drauf und dran gewesen, Mr Wiggins zu töten. Helen wagte kaum daran zu denken, was geschehen wäre, hätte sie ihn nicht gezwungen, sie anzusehen. Sie erschauerte. Eigentlich sollte diese grobe, ungezähmte Seite an ihm sie ängstigen. Doch statt ihr Furcht einzujagen, gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit. Eine Sicherheit, die sie seit jenen Tagen nicht mehr kannte, da sie im Hause ihres Vaters gelebt hatte. Damals, als die Schwierigkeiten und Wirrungen des Erwachsenseins noch nicht ihr Leben beeinflusst hatten.
Ein weiterer Schauer durchfuhr sie, machte ihr bewusst, wie schwach und verletzlich sie gerade war — zu verletzlich. Widerstreitende Gefühle bestürmten sie und machten sie wehrlos ihm gegenüber. Sie musste weg von ihm, und sei es nur kurz, um sich zu sammeln.
Entschlossen nahm sie Jamie bei der Hand und streckte die andere nach Abigail aus. „Komm, mein Schatz. Lass uns nach oben gehen."
Als Abigail ihre Hand in ihre legte, musste Helen sich sehr beherrschen, sie nicht zu fest zu drücken. Am liebsten wollte sie ihre Tochter an sich ziehen, ihr durchs Haar streichen und ihr in die Augen sehen, sich mit eigenen Augen vergewissern, dass Abigail nichts geschehen war; andererseits wollte sie ihre Tochter nicht noch mehr verstören. Besser war es, die Ruhe zu bewahren und sich ganz langsam vorzutasten.
„Wir sind gleich wieder unten", sagte sie zu Alistair und schaffte es sogar, dass ihre Stimme nur ein ganz klein wenig zitterte.
Dann ging sie mit den Kindern hinauf in ihr Zimmer. Jamie schien längst vergessen zu haben, was immer ihn bedrückt hatte. Wie der Blitz zog er sich an und setzte sich dann mit dem Welpen aufs Bett.
Helen goss derweil Wasser in die Waschschüssel, nahm ein Tuch, tauchte es ein und fuhr behutsam über Abigails Wangen. Es war Jahre her, dass sie ihrer Tochter beim Anziehen geholfen hatte. In London war Miss Cummings dafür zuständig gewesen, und auf der Reise nach Schottland hatte Abigail sich selbst fertig gemacht. Aber jetzt wusch Helen ihrer Tochter mit aller Sorgfalt die Tränenspuren aus dem Gesicht, bedeutete ihr dann, sich zu setzen, und kniete zu ihren Füßen nieder, um ihr die Strümpfe anzuziehen, die Strumpfbänder über den Knien zu binden. Jede Bewegung führte sie ruhig, geradezu andächtig aus. Sie zog Abigail Unterkleid und Rock an, schnürte sie an der Taille zu.
Als Helen nach dem Oberteil griff, meinte Abigail schließlich: „Mama, du brauchst das nicht zu machen."
„Ich weiß, Liebes", murmelte Helen. „Aber manchmal finden Mütter eine seltsame Freude daran, ihre Töchter anzuziehen. Magst du mir den Gefallen tun?"
Ihre Tochter nickte. Ihre Wangen hatten wieder das bisschen Farbe angenommen, das sie für gewöhnlich hatten, und ihre Miene war nicht länger angsterfüllt. Helens Finger begannen zu zittern, wenn sie nur an den schrecklichen Ausdruck in Abigails Gesicht dachte, als sie vorhin nach unten geeilt war. Bei Gott, wenn Alistair nicht zugegen gewesen wäre ...
„So", sagte Helen sanft, als auch das Mieder geschnürt war. „Reichst du mir bitte die Bürste, damit ich dein Haar machen kann?"
„Kannst du es mir zu einem Kranz aufstecken?", fragte Abigail. „Natürlich." Helen lächelte und setzte sich auf einen niedrigen Schemel. „Du bekommst eine richtige Prinzessinnenkrone." Abigail drehte sich um, und Helen begann, ihrer Tochter das Haar zu bürsten. „Erzählst du mir, was geschehen ist?"
Abigail hob die schmalen Schultern und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht.
„Ich weiß, dass du nicht darüber sprechen willst", murmelte Helen, „aber du musst, Liebes. Zumindest einmal. Und dann reden wir nie wieder darüber, wenn du willst. Wäre das in Ordnung?"
Abigail nickte und holte tief Luft. „Ich bin aufgewacht, aber du und Jamie, ihr habt noch geschlafen, also bin ich mit Puddles nach unten gegangen, damit er sein Geschäft machen kann, aber dann habe ich Mr Wiggins gesehen, und da sind wir wieder reingerannt, Puddles und ich, und haben uns versteckt."
Ganz außer Atem hielt sie inne. Helen legte die Bürste beiseite und teilte das lange blonde Haar in drei Stränge. „Und dann?"
„Dann ist Mr Wiggins reingekommen", sagte
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