Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Abigail leise. „In das Zimmer, in dem ich mich versteckt hatte. Er ... er hat mich angeschrien. Weil ich ihm hinterherspionieren würde."
Helen runzelte die Stirn. „Wie kommt er denn darauf?"
„Weiß ich nicht", wich Abigail aus.
Helen beschloss, nicht weiter nachzuhaken. „Und was ist dann passiert?"
„Ich ... hab angefangen zu weinen. Ich wollte nicht, ich habe wirklich versucht nicht zu weinen, aber ich konnte einfach nicht anders", gestand sie kläglich. „Es war schrecklich, vor ihm weinen zu müssen."
Helen presste die Lippen zusammen. Sie konzentrierte sich ganz darauf, Abigails Zopf zu flechten. Einen kurzen, ganz kurzen Moment, wünschte sie, dass Alistair Mr Wiggins tatsächlich umgebracht hätte.
„Dann ist Sir Alistair hereingekommen", fuhr Abigail fort, „und er hat erst mich gesehen, und dann hat er Mr Wiggins gesehen, und ... Mama, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell er war! Wie ein Blitz war er bei der Tür, hat Mr Wiggins beim Kragen gepackt und ihn aus dem Zimmer gezerrt. Ich wusste gar nicht, was los war; erst als ich in die Halle kam und du und Jamie und Miss Munroe und Miss McDonald da wart und Sir Alistair gesagt habt, dass er aufhören soll." Am Ende ihres Berichts schnappte sie hörbar nach Luft.
Helen dachte einen Moment schweigend nach. Sie flocht den Zopf zu Ende.
„Reich mir die Nadeln an", sagte sie ruhig, „während ich deinen Zopf aufstecke."
Sie gab ihrer Tochter ein paar Haarnadeln in die Hand und schlang den Zopf hoch um den Kopf ihre Tochter.
„Danke, mein Liebling." Sie nahm eine Haarnadel von Abigail entgegen und steckte sie sorgsam fest. „Ist denn sonst noch etwas in dem Zimmer passiert, in dem du dich mit Puddles versteckt hast?"
Ganz still saß Abigail da, den Blick auf die Nadeln in ihrer Hand gesenkt.
Helens Herz setzte einen Schlag aus. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, und sie musste sich räuspern, ehe sie weitersprechen konnte. „Hat Mr Wiggins dich denn angerührt?"
Nun sah Abigail doch auf. „Mich angerührt?", fragte sie entgeistert.
Oh mein Gott, war das kompliziert! Helen versuchte ganz beiläufig zu klingen. „Hat er dich angefasst, Liebes? Oder ... oder versucht dich zu küssen?"
„Igittittigitt!", rief Abigail und verzog angewidert das Gesicht. „Nein, natürlich nicht, Mama! Er wollte mich nicht küssen, er wollte mich schlagen!"
„Aber warum?"
„Weiß ich nicht." Abigail sah zur Seite. „Er hat gesagt, er würde mich verprügeln, aber dann kam Sir Alistair rein und hat ihn aus dem Zimmer gezerrt."
Der Kloß in ihrem Hals war auf einmal verschwunden. Helen schluckte und fragte, nur um ganz sicher zu sein: „Dann hat Mr Wiggins dich also nicht angefasst?"
„Nein, das hab ich doch gesagt. Sir Alistair ist reingekommen, ehe Mr Wiggins in meiner Nähe war. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er mich küssen wollte, so wütend wie er war."
Abigail sah sie an, als hielte sie ihre Mutter für reichlich schwer von Begriff.
Und noch nie war Helen so erleichtert gewesen, für dumm gehalten zu werden. Sie steckte die letzte Nadel fest, drehte Abigail zu sich um und schloss sie in die Arme, sorgsam darauf bedacht, sie nicht so fest zu drücken, wie sie es am liebsten getan hätte.
„Da bin ich aber froh, dass Sir Alistair genau zur rechten Zeit gekommen ist. Und wegen Mr Wiggins müssen wir uns, glaube ich, keine Sorgen mehr machen.”
Abigail sträubte sich in ihren Armen. „Kann ich mal in den Spiegel schauen?"
„Natürlich." Helen gab ihre Tochter frei. Abigail lief zu dem alten Spiegel über der Kommode, stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, um ihre geflochtene Krone zu bewundern.
„Ich hab Hunger", verkündete Jamie und sprang vom Bett.
Helen nickte lebhaft und stand ebenfalls auf. „Wartet noch kurz, bis ich mich angezogen habe, und dann schauen wir, was die Köchin Schönes fürs Frühstück vorbereitet hat."
Als sie ihre Toilette erledigte, war ihr schon viel leichter ums Herz, wenn ihr auch nicht so ganz aus dem Sinn wollte, dass Abigail ihr zweimal ausgewichen war. Wenn Mr Wiggins das Mädchen hatte schlagen wollen, was verschwieg es dann vor ihr?
„Wir müssen dem Hund endlich einen vernünftigen Namen geben", grummelte Alistair später am Tage zu niemand Bestimmtem und schwang sich seinen alten Ledertornister über die Schulter.
Oben auf der Hügelkuppe blieb er stehen und sah Jamie und Abigail zu, die auf der anderen Seite
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