Ein unerhörtes Angebot
letzte Mal, da sie ihn in ihrem schäbigen Salon empfangen hatte. Und Helen wusste, dass sie selbst ein kaum weniger schäbiges Erscheinungsbild bot. Diesmal war ihr Haar zwar zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt, und auch ihr praktischer brauner Rock und das adrette Baumwollmieder wirkten präsentabler als das verblichene blaue Baumwollkleid. Aber beim letzten Mal hatte sie wenigstens ein sauberes Gesicht gehabt. Während die beiden Männer einige Worte wechselten, rieb sie sich unauffällig mit dem Ärmel über die Wange, senkte den Arm indes hastig, als Jason sie ansprach.
„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, Mrs. Marlowe?“
Seine Frage klang ernst, das spöttische Glitzern in seinen Augen jedoch verriet Helen, dass er sich über sie lustig machte. Sie nickte. „Unglücklicherweise doch, Sir Jason“, antwortete sie, ohne ihren Unmut ganz verhehlen zu können. „Mein Bruder und ich waren gerade dabei, eine wichtige familiäre Angelegenheit zu besprechen. Ich möchte nicht ungastlich erscheinen, aber …“
„Helen! Wo bleiben deine Manieren?“, unterbrach George sie vorwurfsvoll. „Wir können unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen.“ Er holte seine goldene Taschenuhr hervor und stieß einen bedauernden Seufzer aus. „Wie die Zeit vergeht! Ich würde gern ein wenig verweilen, doch ich muss leider fort. Mein Anwalt erwartet meinen Besuch in Cheapside, und danach habe ich wichtige Geschäfte in Holborn zu erledigen. Warum lässt du Betty nicht den Tee bringen, Helen? Ich nehme an, Charlotte wird bald zurück sein und euch Gesellschaft leisten.“ Er schlenderte zum Tisch, nahm seinen Hut und die Handschuhe und ging zur Tür.
„Vielleicht wird Sir Jason eher an deinen Manieren zweifeln“, fuhr Helen ihn bissig an. „Willst du nicht noch einen Moment bleiben, George?“
„Sehr gerne, meine Liebe, aber ich bin bereits spät dran. Außerdem bezweifle ich, dass Jason gekommen ist, um mich zu sehen. Oder gab es irgendetwas, das Sie mir mitteilen wollten, alter Junge?“, fragte er leutselig.
„Nicht das Geringste.“
Wieder hörte Helen einen Ton in Jasons Stimme, der deutlich machte, dass die beiden Männer ihren Streit nicht beigelegt hatten. Aber ihr lag im Augenblick mehr daran, dass George lange genug blieb, damit sie kurz hinausschlüpfen und sich säubern konnte.
Ihr Bruder schien allerdings nur gekommen zu sein, um sie zu verärgern, und nun musste sie mit dem peinlichen Erscheinen Sir Jasons allein fertig werden. Auch der Auseinandersetzung mit Mr. Drover heute Nachmittag und der Begleichung der offenen Rechnungen würde George offenbar wieder einmal entgehen.
Nachdem er sich geschickt davongemacht hatte, war das rhythmische Ticken der Uhr auf dem Kamin minutenlang das einzige Geräusch im Salon. Helen hatte Mühe, ihre Wut auf ihren Bruder in den Griff zu bekommen und sich ihrer Pflichten als Gastgeberin zu entsinnen. „Bitte, setzen Sie sich doch, Sir, wenn Sie möchten.“
Während Jason in dem alten Ledersessel Platz nahm, in dem er auch beim letzten Mal gesessen hatte, fiel Helen ein weiterer Grund ein, ihren Bruder zu verachten. Georges sorglose Vermutung, dass sie einem Gast Erfrischungen anbieten konnte, zeugte davon, wie wenig Gedanken er sich über die ärmlichen Verhältnisse machte, in denen seine Schwestern in Westlea House lebten.
Plötzlich erinnerte sie sich an die halb volle Flasche Madeira im Esszimmer. George achtete darauf, dass immer eine zu seiner Verfügung stand, falls er bei einem seiner Besuche etwas trinken wollte. Sich der Tatsache überdeutlich bewusst, dass Sir Jason sie nicht aus den Augen ließ, fragte sie mit der Gelassenheit einer guten Gastgeberin: „Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?“
„Nein danke“, lehnte Jason ab und lächelte schief. „Ich werde versuchen, nicht länger zu bleiben als unbedingt notwendig.“
Helen spürte, wie sie rot wurde. Vielleicht war sein Ton gar nicht spöttisch, und sie reagierte einfach überempfindlich, wenn es um diesen Mann ging. Sie unterdrückte den Wunsch, sich mit der Hand übers Gesicht zu wischen. Das Wissen, dass er den Rußfleck gesehen haben musste, ärgerte sie so sehr, dass sie sich bissig erkundigte: „Gibt es auch einen Grund für Ihren Besuch, Sir?“
„Ja, den gibt es. Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass eine Fuhre Heizmaterial auf dem Weg zu Ihnen ist. Oder ist der Kohlenmann schon hier gewesen? Sie scheinen ein wenig Ruß auf der Wange zu haben …“
Helen zuckte
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