Ein unerhörtes Angebot
schwankte zwischen Wut und Entsetzen, nun, da sie endgültig verstand, was ihr Bruder meinte. Wenn Jason Hunter für seine Erben eine noblere Abstammung kaufen wollte, so war das seine Sache. Aber wenn er mit dem Gedanken spielte, ihre Schwester zu ruinieren, ging das Helen sehr wohl etwas an.
Im Stillen ging sie noch einmal das Gespräch durch, das sie mit ihm geführt hatte. War sie so sehr darauf bedacht gewesen, ihm die Folgen seiner Beziehung zu Iris vor Augen zu halten, dass ihr völlig entgangen war, wie sehr er auf eine Person Jagd machen könnte, die ihr viel mehr am Herzen lag? Sie kam zu dem Schluss, dass kein einziges Wort gefallen war, das sie auf den Gedanken bringen müsste, Sir Jason sei ein gefühlloser Verführer unschuldiger junger Mädchen. Auf ihre Bitte hin, das Haus zu verlassen, weil sie Charlotte zurückerwartete, hatte er keinen Versuch gemacht, sein Gehen hinauszuzögern, und sicher hätte er das doch getan, würde er sich zu ihrer jüngeren Schwester hingezogen fühlen.
Zu ihrem Entsetzen wurde Helen bewusst, dass sie nicht Jason Hunter misstraute, sondern ihrem eigenen Bruder. „Wie kannst du einen Gentleman eines solch verachtenswerten Verhaltens bezichtigen?“ George quittierte ihren finsteren Blick mit einem spöttischen Lächeln, doch unbeirrt setzte Helen hinzu: „Sir Jason mag den Ruf eines Wüstlings haben, aber ich bin sicher, dass er keinem unschuldigen Mädchen zu nahe treten würde!“
Ihre Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Georges Hinterhältigkeit machte sie fassungslos – die Möglichkeit, dass seine Schwester durch Jason Hunter ruiniert werden könnte, schien für ihn tatsächlich eine „günstige“ Aussicht. Helen war so außer sich, dass sie Bettys Eintreten erst bemerkte, als das Mädchen sich vernehmlich räusperte.
Helen drehte sich um und sah die junge Dienstbotin fragend an. „Ein Gentleman ist gekommen, Mrs. Marlowe“, erklärte Betty und gab Helen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass besagter Gentleman im Foyer stand.
Also musste der Besucher gehört haben, dass Mrs. Marlowe sich in ihrem Salon wie ein Fischweib aufführte. Helen holte tief Luft und schob ihr Unbehagen beiseite. Es war nun einmal geschehen, und wenn sie Glück hatte, handelte es sich nur um Samuel Drover, der gekommen war, um sein Geld abzuholen. Insgeheim hoffte sie, dass der Lebensmittelhändler heute nicht in der Stimmung war, sich abwimmeln zu lassen. Vielleicht würde er es schaffen, George dazu zu bringen, die Rechnungen zu bezahlen.
Aber Bettys folgende geflüsterte Worte zerstörten diese Hoffnung und ließen Helen bis ins Innerste erzittern.
„Der Gentleman … es ist … Sir Jason Hunter, Ma’am.“
Helen fühlte sich hin und her gerissen zwischen Scham und Trotz. Es war immerhin möglich, dass Sir Jason nicht gehört hatte, dass sein Name gefallen war. Andererseits konnte ihm kaum entgangen sein, wie undamenhaft laut sie ihre Stimme erhoben hatte. Helen warf ihrem Bruder einen Blick zu. Flüchtig wunderte sie sich über seine plötzlich betretene Miene, dann straffte sie entschlossen die Schultern, hob das Kinn und wies Betty mit klarer, ruhiger Stimme an: „Führe ihn bitte herein, Betty.“
„Du hältst meine Theorie also für unsinnig, was? Was bringt ihn dann her, frage ich mich.“ George betrachtete seine Schwester zum ersten Mal etwas aufmerksamer. „Meine Güte, wie siehst du aus, Helen? Du hast Schmutz an der Wange. Was soll Hunter von dir denken?“
Helen hob die Hand und stöhnte leise, als sie sah, dass es wohl ihre Finger gewesen sein mussten, die den Fleck in ihrem Gesicht verursacht hatten. Wahrscheinlich kam der Schmutz von dem rußverschmierten Papier, das der Kohlenhändler ihr gegeben hatte.
Hastig wischte sie sich die Finger an ihrem Rock sauber, und im selben Augenblick hörte sie George sagen: „Hunter, was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.“
„Doch sicher eine erfreuliche“, kam Jasons sarkastische Antwort. Helen zuckte zusammen. Sie betrachtete ihn verstohlen und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es anging, dass so raue Züge ein so angenehmes Gesamtbild ergeben konnten.
Er schien sich ihrer Begutachtung bewusst zu sein, denn plötzlich wandte er ihr das Gesicht zu. Helen hob das Kinn und versteckte die Hände hinter dem Rücken.
Falls er wusste, dass er im Mittelpunkt ihres Gesprächs gestanden hatte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er sah nicht weniger elegant und gelassen aus als das
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