Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Jetzt war es ihm klar: Jedes Mal, wenn der Graf auftauchte, war sie prächtig aufgeputzt. In der Oper und auf Karins Souper hatte sie kostbare Kleider getragen. Doch beim Schlittschuhlaufen und in Gröndal hatte sie ganz nach der armen Cousine ausgesehen, die sie eben war. Auf dem königlichen Ball hingegen war sie eine Augenweide gewesen, natürlich um den Grafen zu bezirzen, doch bei der Gelegenheit war ihr eben auch Seth an die Angel gegangen. Was mussten sie über ihn gelacht haben. Er hatte sie auf dem Ball gerettet – wie ungeheuer komisch. Gerettet vor ihrem zukünftigen Ehemann. Angewidert schüttelte er den Kopf. Er hätte nach dem gehen sollen, was er sah, nicht nach dem, was er fühlte. In einer Hinsicht hatte sie auf jeden Fall recht gehabt: Er war offensichtlich ein Mann, der sehr auf seine Gefühle hörte.
[zur Inhaltsübersicht]
9
Im Haus der Familie Löwenström, Stockholm
«Und sie hat auch eine Lieferung Fächer bekommen. Wir sollten vielleicht einmal vorbeischauen», schlug Harriet vor und rührte zerstreut in ihrer Teetasse.
«Ja, Mama», antwortete Sofia.
Harriet legte den Silberlöffel beiseite und nahm einen Schluck Tee, bevor sie aus dem Fenster blickte.
«Ach, das Wetter ist so schrecklich grau. Ich sollte wohl lieber eines der Dienstmädchen schicken.»
«Ja, Mama», antwortete Sofia abermals, ohne von ihrer Stickarbeit aufzublicken. Sie war so glücklich eingesponnen in ihrem Kokon der Verliebtheit, dass Beatrice nicht sicher war, ob ihre Cousine überhaupt wusste, worauf sie da antwortete. Andererseits fiel es Harriet auch nicht schwer, Monologe zu halten.
Die Tante strich sich mit der Hand übers Kleid, und der dunkle Stoff raschelte. Ausdruckslos musterte sie ihre Fingernägel. «Aber die Dienstmädchen sind ja so unzuverlässig», klagte sie. «Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist, die sind alle so faul und schnippisch.» Sie nahm einen Keks von einer Silberschale, betrachtete ihn eingehend und legte ihn dann wieder aus der Hand. «Hast du gehört, dass Papa den Kutscher entlassen musste?»
«Ja, Mama.»
Harriet wandte sich an Miss Mary, die den Nähkorb auf dem Schoß hatte und ein Garn für die Hemdenmanschette aussuchte, die sie ausbessern wollte. «Du könntest doch gehen, Mary. Ein Spaziergang würde dir sicher guttun. Aber sei achtsam, als wir dich letztes Mal nach Handschuhen geschickt haben, hast du die falschen mitgebracht.»
«Ja, gnädige Frau.»
«Und wir müssten eigentlich auch neue Spitze kaufen.» Sie seufzte tief. «Ich glaube, ich gehe doch lieber selbst, sonst wird das nichts.»
Beatrice versuchte sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Sie hatte schon vier Seiten gelesen, hatte aber keine Ahnung, wovon es handelte. Sie musste es kurz zuklappen und einen Blick auf den Umschlag werfen. Robin Jouets Fahrten und Erlebnisse in den Urwäldern von Guyana und Brasilien. Sie blickte auf den roten Halblederband, der aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Was auch immer Robin Jouet im südamerikanischen Dschungel mitmachen musste, es konnte nicht quälender sein als diese Monotonie. Und so wird der ganze Rest meines Lebens verlaufen, dachte sie, nur noch schlimmer. Sofia würde zu Johan ziehen und eine Familie gründen, und dann blieb Beatrice allein in diesem dunklen Haus. Jeden Vormittag würde sie sich in den überladenen Salon mit den protzigen Möbeln und den naiven Gemälden setzen und Harriets niemals abreißenden Klagen lauschen. Gleichzeitig schämte sie sich für ihre Undankbarkeit. Für viele Frauen war Armut eine bittere Wirklichkeit, und sie konnte sich nur zu gut an die grauenvollen Wochen erinnern, bevor ihr Onkel sie zu sich holte. Er hatte seine Verantwortung übernommen, und sie war völlig von ihm abhängig. Also sollte sie ihm dankbar sein. Und das war sie ja auch. Aber … Seth war tatsächlich am Morgen nach ihrem Gespräch verschwunden gewesen. Anscheinend war er schon bei Sonnenaufgang davongeritten. Nach den heimlichen Minuten im Wintergarten hatten sie nicht mehr viel miteinander gesprochen. Doch beim Abendessen hatte sie zwischen Olav und Christian gesessen, und die beiden Norweger hatten sie so gut mit ihren Geschichten unterhalten, dass sie sich vor Lachen gebogen hatte.
Wie gern würde ich auch zu so einer Familie gehören, dachte sie. Jemand haben, der sich meine Gedanken anhören mag. Und wie wunderschön wäre es, mit Sofia umgehen zu können wie mit einer Gleichgestellten, nicht wie die arme Verwandte. Eine eigene Familie zu
Weitere Kostenlose Bücher