Ein unmoralischer Handel
darüber nachdachte, was er eigentlich getan hätte, wenn sie ihm ihre Hand geboten hätte. Diese nicht zu beantwortende Frage führte ihn zu der Überlegung, wann er sie überhaupt das letzte Mal berührt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, aber sicher nicht in den letzten zehn Jahren.
Er überquerte die Straße und lockerte die Schultern, als diese seltsame Spannung allmählich nachließ. Er bezeichnete es als Erleichterung, dass er nicht mehr in ihrer Nähe sein musste, doch das war es nicht. Es war diese körperliche Reaktion - die er niemals begriffen hatte, die sie jedoch so stark auslöste -, die allmählich abklang.
Bis sie das nächste Mal aufeinander trafen.
Alathea sah ihm nach; erst als seine Schuhe das Kopfsteinpflaster betraten, konnte sie wieder frei atmen. Während ihre Nerven sich beruhigten, schaute sie sich um. Neben ihr ertönte das unbekümmerte, vergnügte Geplauder von Mary und Alice. Es verwunderte sie jedes Mal, dass die beiden, die ihr am liebsten waren und am nächsten standen, nichts Schlimmes an diesen Begegnungen finden konnten, die für sie wie auch Rupert so unangenehm waren. Außer ihnen bemerkte nur Lucifer etwas, wahrscheinlich, weil er zusammen mit ihnen aufgewachsen war und sie sehr gut kannte.
Als ihr Puls sich wieder beruhigte, breitete sich freudige Erregung in ihr aus.
Er hatte sie nicht erkannt.
Ja, nachdem seine typische Reaktion letzte Nacht vollkommen ausgeblieben war, als er die Gräfin getroffen hatte, diese Reaktion gerade eben aber umso deutlicher aufgeflammt war, bezweifelte sie, dass er jemals eine Verbindung zwischen ihr und der Gräfin würde herstellen können.
Heute Morgen war sie in dem sicheren Wissen erwacht, dass es nicht ihre körperliche Erscheinung war, die ihn derart provozierte. Solange er nicht wusste, dass sie Alathea Morwellan war, geschah nichts. Keine unterdrückte Irritation, kein Knistern, kein Streit. Wohltuendes Nichts. In Mantel und Schleier war sie einfach eine andere Frau.
Sie legte keinen besonderen Wert darauf zu erfahren, warum sie das so glücklich machte, warum sie sich fühlte, als sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Es war eindeutig ihre Identität, die sein Problem heraufbeschworen hatte - und es war, das wusste sie, sein Problem, etwas, das zuerst bei ihm aufgetreten war, etwas, worauf sie dann re agiert hatte.
Dieses Wissen machte die Sache zwar nicht leichter zu ertragen, aber …
Sie musterte das eiserne Tor, durch das er herausgekommen war. Es stand weit offen, damit die Kutschen direkt in den Innenhof fahren konnten. Sie konnte die bogenförmigen Aufgänge erkennen und sah das Schimmern der bronzenen Schilder - es war nicht schwer zu erraten, wozu sie dienten.
Er hatte zufrieden und zuversichtlich gewirkt, als er aus dem Tor geschlendert gekommen war.
Alathea tat einen tiefen, erleichterten Atemzug und lächelte Mary und Alice zu. »Kommt, Mädchen. Lasst uns mal zum Inn hinübergehen.«
Der Abend brach an und mit ihm eine seltsame Unruhe.
Gabriel ging im Salon seines Hauses in der Brook Street auf und ab. Er hatte bereits gegessen und trug schon Abendkleidung, um den Ballsaal einer vornehmen Gastgeberin zu zieren; welche er mit seiner Gegenwart beehren würde, galt es, noch zu entscheiden. Er hatte vier Einladungen, unter denen er wählen konnte, keine davon schien ihm jedoch besonders verlockend.
Er fragte sich, wo wohl die Gräfin den Abend verbringen würde. Und wo wohl Alathea zu finden sein würde.
Die Tür ging auf, er hielt inne. Sein Butler Chance - mit hell schimmerndem Haar und makellos schwarz gekleidet, wie vorgeschrieben - trat mit einer nachgefüllten Cognac-Karaffe und frischen Gläsern auf einem Tablett ein.
»Bist du so gut und schenkst mir einen ein?« Gabriel drehte sich um, als der kleine schmächtige Chance zur Anrichte ging. Er fand heute Abend keine Ruhe und hoffte, dass ein starker Cognac ihm den Kopf frei machen würde.
Als er Lincoln’s Inn verlassen hatte, fühlte er sich durch seinen kleinen Erfolg beschwingt und hatte der Gräfin und dem sinnlichen Spiel, das sich zwischen ihnen entwickelte, mit freudiger Erwartung entgegengesehen. Dann hatte er Alathea getroffen. Zehn Minuten in ihrer Gegenwart hatten ihm förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen.
Sie war, seit er denken konnte, Teil seines Lebens gewesen; nie zuvor hatte sie ihn aus ihren Gedanken ausgeschlossen. Nie hatte sie ihre Meinung anders als vollkommen frei vertreten, selbst wenn er es sich manchmal
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