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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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Schulter und sagte langsam:
    »Stellen Sie sich doch einmal folgende Frage, Doktor Bjerre. Wir sind Forscher, und unsere Forschungsergebnisse werden von nachfolgenden Generationen beurteilt werden. Was meinen Sie, für wen werden sie sich wohl mehr interessieren, für Sie oder für mich?«
    Beide wussten es: Es war das letzte Mal, dass Poul Bjerre und Sigmund Freud miteinander sprachen.
    Während er darauf wartete, dass der Zug sich in Bewegung setzte, öffnete Poul sein Notizbuch. Der Heimweg nach Stockholm war lang, in Hamburg musste er noch dazu übernachten. Der Zug war halbleer und stand stampfend am Bahnsteig. Die Zusammenkunft in München hatte sich zu einem Misserfolg und unerwarteten Scheideweg für seine Karriere entwickelt.
    Er begriff, dass seine Zeit im engsten Kreis um Freud vorbei war. Jetzt musste er eigene Theorien entwickeln und die Ideen ausarbeiten, von deren Einzigartigkeit und Fortschrittlichkeit er überzeugt war.
    Er hämmerte sich die Argumente regelrecht in den Kopf. Er war nicht irgendwer, er war nicht Freuds Lakai. Einer der führenden Seelenärzte Europas, dessen Karriere noch in den Kinderschuhen steckte, war er. Die großen Werke lagen noch vor ihm, davon war er fest überzeugt.
    Er zog seinen Stift aus der Innentasche des Jacketts und begann einen Bericht über den Kongress zu verfassen. Er würde nichts verschleiern, wenn es nicht anders ging, musste er eben ein paar Freunde verlieren. Sobald er heimgekehrt war, würde er seinen Bericht Jung und Adler schicken. Bei ihnen sah er jetzt seine Zukunft. Mit ihnen würde er die Psychoanalyse so weiterentwickeln, dass sie zu einer Behandlungsmethode wurde, die weit entfernt von dem Schreibtischprodukt war, in das sie sich verwandelt zu haben schien.
    Wien hatte seine Rolle ausgespielt, die Zukunft lag in Zürich.
    Nachdem er eine Stunde fieberhaft geschrieben hatte, kaum bemerkend, dass sich der Zug in Bewegung gesetzt und seine Fahrt durch die bayerische Landschaft aufgenommen hatte, legte er den Stift beiseite. Er klapperte, als er auf den Tisch schlug, und wurde langsam zum Rand gezogen. Seine Augen folgten der Bewegung des Stifts, aber er fühlte sich seltsamerweise außer Stande, die Hand zu heben, damit er nicht zu Boden fiel.
    Alle Kraft schien aus ihm gewichen.
    Sein Körper begann, den krängenden Bewegungen des Zugs zu folgen, ohne dass er sich gegen sie zu stemmen vermocht hätte. Er war schon fast auf dem Weg aus seinem Sitz, als der Stift schließlich hinabfiel und im Mittelgang weiterholperte. Immer wieder wurde sein Hinterkopf sachte gegen die Nackenstütze geschlagen. Er gab sich dem Metronom der Schienen hin, das er als rhythmische, wenn auch eingekapselte Laute wahrnahm. Du-dunk, du-dunk.
    Dem Schaffner, der gerade die Fahrkarten kontrollierte, fiel der rollende Stift ins Auge, und er hob ihn auf.
    »Ist das Ihr Stift, mein Herr?«, fragte er Poul.
    Als er keine Antwort bekam, wiederholte er die Frage und hielt Poul den Stift hin.
    »Ist alles in Ordnung?«, sagte er dann und hob fragend die Augenbrauen.
    Im selben Moment wurde Pouls Lähmung aufgehoben. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Stift.
    »Danke, es geht mir gut. Offensichtlich habe ich meinen Stift verloren. Haben Sie vielen Dank, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
    Der Schaffner nickte höflich und blinzelte, als die Sonne plötzlich in den Wagen schien. Nachdem sie etliche Kilometer durch den Wald gefahren waren, breiteten sich plötzlich weite Felder vor ihnen aus. Das Rütteln des Zugs verstärkte sich, gleichzeitig erhöhte sich seine Geschwindigkeit.
    »Schön«, meinte der Mann zögernd. »Dürfte ich Sie um Ihre Fahrkarte bitten, wo ich gerade hier bin?«
    »Sicher, sicher«, sagte Poul und zog die Fahrkarte aus der Innentasche seines Jacketts.
    Mit der Fahrkarte holte er den Brief von Andreas heraus, der ebenfalls in der Tasche lag. Er war am Tag seiner Abreise zum Kongress gekommen. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Während der Schaffner die Fahrkarte abstempelte und zurückgab, starrte Poul den Brief an. Er lag wie festgefroren in seiner Hand. Sein erster Gedanke war, dass er ihn besser zu Hause gelassen hätte.
    Warum in Gottes Namen hatte er ihn nur mitgenommen? Solange er sich auf den Kongress konzentrieren musste, hätte er ohnehin nicht die Zeit gefunden, Briefe zu beantworten.
    Er seufzte schwer. Immer diese Verpflichtungen, dachte er, familiäre Sorgen, die nirgendwohin führten und sich ihm immer dann aufdrängten, wenn er mit

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