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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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etwas wirklich Wichtigem beschäftigt war.
    Er hatte den Brief zwar nicht gelesen, ahnte aber schon, worum es ging. Um das Übliche. Geld oder Gefälligkeiten, die von ihm gefordert wurden. Seinem Bruder wäre im Leben nie etwas gelungen, wenn sich ihr Vater nicht so um ihn gekümmert hätte. Davon war er überzeugt.
    Er öffnete das Zugfenster, legte den ungelesenen Brief in den Spalt, ließ ihn dort einen Moment liegen und hörte ihn im Fahrtwind schlagen. Dann ließ er los. Der Brief verschwand aus seinem Blickfeld und war fort.
    Für einen kurzen Moment blieb er sitzen und blinzelte mehrmals fest. Dann schloss er das Fenster und nahm erneut den Stift zur Hand. Es dauerte eine Weile, aber dann begann er, mit neuem Schwung zu schreiben.

Lieber Bruder …
    Was machen wir mit unseren Erinnerungen? Wie verhalten wir uns, wenn unsere Erinnerungsbilder nicht mit denen anderer übereinstimmen? Dieser ewige, ermüdende Kampf um die Deutungshoheit. Unsere schlimmsten Kämpfe, Poul, kreisten darum, wie wir im Nachhinein eine bestimmte Situation deuteten. Meistens ging es nur um ein Detail – und schon entstand daraus ein riesiges Missverständnis.
    Und nun, in dieser Nacht, stürzen sich die Erinnerungen auf dich. Sie schleichen sich in der Stille an. Nach dem Zwischenfall mit dem Messer versammelte sich die ganze Familie, um in der Abenddämmerung zusammenzusitzen, und ich saß auf Mutters Schoß. Den ganzen Abend lächelte sie mich und sonst niemanden an, als hätten sie und ich ein Geheimnis, von dem du nichts wissen durftest. Wie gern hättest du es mit uns geteilt.
    Der Wunsch, den du dein Leben lang gehegt hast: auf Mutters Schoß sitzen zu dürfen.
    Aber sie sah dich nicht einmal an, den ganzen Abend nicht. Es gab nur sie und mich in dem Sessel; sie kitzelte mich, und ich lachte. Vater las ein Buch und rauchte seine Pfeife, blickte ab und zu auf und lächelte abwesend, wie immer, so als wollte er uns einen Gedanken kundtun, der ihm gekommen war, oder eine besonders hübsche Formulierung aus seinem Buch vorlesen. So gegenwärtig, aber trotzdem stets abwesend. Es war das erste Mal, dass du dich in deiner eigenen Familie wie ein wildfremder Mensch fühltest. Vielleicht, Poul, ist es das einzige Mal in deinem Leben gewesen, dass du erfahren musstest, was ich während des größten Teils meines Lebens erleben musste. Wenn du diesen Augenblick doch nur zu schätzen wüsstest, dieses Gefühl, und erkennen könntest, welche Bedeutung er für unsere Beziehung hatte. Halt einfach inne. Genau dort. Das alles überschattende Gefühl, ein Fremder zu sein.
    Unsere Schwestern spielten neben dem Kachelofen. Eins ihrer üblichen Spiele mit diesen Spielkarten, die sie so liebten, vermutlich Mariage, obwohl Mutter das Spiel unmoralisch fand und es ihnen am liebsten verboten hätte. Aber jedesmal, wenn sie es zur Sprache brachte, winkte Vater beschwichtigend ab.
    »Lass sie«, sagte er, wenn sie sich beklagte. »Sie werden noch früh genug erleben, was es heißt, Opfer zu bringen.«
    An diese Szene zwischen unseren Eltern erinnern wir uns beide. Immerhin beobachteten wir sie tagtäglich während unserer gesamten Kindheit und Jugend. Lass sie … früh genug …
    Aber als ich an jenem Abend auf Mutters Schoß saß und dir eine lange Nase drehte, reagiertest du nicht einmal erstaunt, senktest nur den Blick noch etwas mehr, kauertest dich auf deinem Stuhl in der Ecke zusammen wie ein Küken, suchtest Schutz. Und keiner sah dich oder nahm deine Lage wahr. Außer mir.
    Jenen Abend empfandest du als eine Bestätigung dafür, dass du in unserer Familie am unbedeutendsten warst, die Person, für die sich alle insgeheim schämten, der Wechselbalg. Wenn es dir, Poul, doch nur möglich gewesen wäre, diese Erinnerung besser zu behüten! Dann hätte zwischen uns alles anders werden können.
    Es gibt noch eine andere Erinnerung, an damals, als du mit einer Lungenentzündung ins Bett gesteckt wurdest. Es geschah nur wenig später, höchstens ein paar Wochen waren vergangen. Du hast in deinem späteren Leben mehrfach behauptet, du könntest dich nicht daran erinnern, dass Mutter dich besucht hätte, als du krank im Bett lagst. Aber irgendwo in deinem Inneren hegtest du den Verdacht, dass du die Erinnerungen falsch gedeutet hattest. Habe ich das vielleicht trotz allem falsch in Erinnerung? Sie muss doch nach mir gesehen haben, als ich so krank war? Aber warum kann ich mich nicht daran erinnern?
    So lauteten die Fragen, auf die du trotz Analyse und

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