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Ein unversoehnliches Herz

Titel: Ein unversoehnliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Bravinger
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sie, was sie alles aufgegeben hatte, damit die Kinder trotz der Familientragödie durch den Tod ihres Vaters und den anschließenden Konkurs möglichst geborgen aufwachsen konnten. Als die Kinder älter wurden, schien ihre Rolle unklar geworden zu sein, sie wusste nicht mehr, für wen sie die Verantwortung trug. Die Jahre waren wie im Flug vergangen. Es kam ihr vor, als hätte sie nur kurz die Augen geschlossen, und plötzlich war aus einer jungen und frisch verliebten Frau eine Witwe mit drei erwachsenen Kindern geworden.
    Das Spiegelbild gehörte einer Fremden. Sie hatte dieses Gesicht noch nie gesehen. Das Bild erzählte ihr, dass sie die Kinder loslassen, sie ihre eigenen traurigen Erfahrungen machen, ihr eigenes Leben führen und selbständig ihr Glück suchen lassen musste. Aber so sehr sie sich auch mühte, das Spiegelbild sagte ihr nichts darüber, wie sie ihr Leben führen sollte.
    Um Amelie machte sie sich keine Sorgen, sie würde immer zurechtkommen, obwohl sie sich nur ungern anpasste und nie wusste, wann sie lieber schweigen sollte. Aber sie war wie eine Katze, die immer auf den Füßen landete, weitertappte und sich Hals über Kopf in die nächste Situation, in die nächste Phase ihres künstlerischen Erwachens, stürzte. Sie war eine Überlebenskünstlerin, das hatte Gunhild immer gewusst. Um ihre Söhne stand es da schon schlechter. Wenn sie sich mit Forderungen konfrontiert sahen, lähmte sie das fast vollständig. Sie hoffte, dass die beiden eine sichere Stelle finden würden, um sich auf dieser Basis eine Existenz aufbauen, heiraten, eine Familie gründen und ein sicheres Auskommen haben zu können. Ihre eigenen Möglichkeiten erschöpften sich darin, ihnen die nötigen Voraussetzungen zu verschaffen – den Rest mussten sie schon selbst besorgen.
    Amelie war für Gunhild aus mehreren Gründen etwas Besonderes. Zunächst einmal war sie die Älteste und konnte ihr als Einzige helfen, die schwierige Zeit durchzustehen, nachdem sie Witwe geworden war und sie und die Kinder von der kärglich bemessenen Apanage der Familie lebten. Außerdem hatte Amelie etwas, was sie selbst auch besaß: die Seele einer Künstlerin.
    Mehr als alles andere wünschte sie sich, dass Amelie die Kunst nicht aufgab, wie sie den Gesang aufgegeben hatte. Sie tröstete sich damit, dass die Zeiten sich geändert hatten. Amelie war Teil einer neuen Zeit, in der einem Möglichkeiten offenstanden, von denen Gunhilds Generation nur hatte träumen können. Nein, mehr noch, sie hatten nicht einmal geahnt, dass sie von ihnen träumen konnten. Amelie hatte die Malerei wie Gunhild ihren Gesang.
    Hätte sie doch nie das Singen aufgegeben.
    Unzählige Male hatte sie darüber nachgedacht. Aber ihr war keine andere Wahl geblieben, ihre Gesundheit hatte sie im Stich gelassen. Sie musste sich einreden, dass es so war, ihrem Körper hatte die nötige Kraft für die Anstrengungen gefehlt, die erforderlich waren, um auf dem hohen Niveau zu singen, für das sie die Voraussetzungen mitbrachte. Aber wenn sie Amelie betrachtete, sah sie den gleichen gebrechlichen Körper, der ständig von Gliederschmerzen und Migräne geplagt wurde. Ja, ihr Körper hatte sie im Stich gelassen, das sagte sie immer, wusste jedoch insgeheim, dass es im Grunde umgekehrt gewesen war: Ihr Gesang hatte sie stärker und gesünder gemacht.
    »Zwar hat es mich immer mit GRAUEN erfüllt, wenn sie ihre Begabungen verkümmern lassen, sobald sie in den Stand der Ehe eintreten, doch nun fürchte ich bisweilen, dass ich dasselbe tun werde …«
    Das hatte sie ihrem Tagebuch anvertraut, als sie sah, wie andere junge Frauen in ihrem Alter auf das verzichteten, wofür sie sich am meisten begeisterten. In ihrer Jugend hatte sie bei Kammersänger Isak Berg, Jenny Linds Gesangslehrer, studiert, der ihr bestätigte, so talentiert zu sein, dass sie es noch sehr weit bringen würde. Sie spürte, dass ihr Gesang etwas Magisches hatte. Sie sah ihn als eine herrliche Gabe, als von Gott geschenkt.
    Hätte sie doch nur das Singen nicht aufgegeben.
    Wenn sie sang und die Töne trugen, wusste sie, dass sie damals die falsche Wahl getroffen hatte. Ihre Gesundheit hatte sich mit den Jahren nicht gebessert, im Gegenteil. Aber es gab Tage, an denen sie ihren Kopf im Kissen vergrub, um die Sehnsucht nach dem zu stillen, was ihr mehr bedeutete als alles andere. Sie war eine geborene Sängerin gewesen. Das Spiegelbild enthüllte ihr das jedoch nie. Es zeigte eine gute und verständnisvolle Mutter, eine

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