Ein unversoehnliches Herz
schwer und wandte sich wieder der Bühne zu, wo Isabeau ein ums andere Mal ihren Vater anflehte, Folco aus dem Gefängnis zu entlassen.
Eine Prinzessin und ein armer Mann. Es fiel einem schwer, den psychologischen Tiefgang des Librettos zu sehen. Aber die Musik ließ sich als Mascagnis erkennen, nicht zuletzt die charakteristische Direktheit, mit der sie das Publikum ansprach. Gerüchteweise hieß es, Mascagni wohne der abendlichen Premiere in Roms Opernhaus bei, was sein Impresario allerdings dementiert hatte, der behauptete, der Komponist halte sich noch immer in Südamerika auf und werde frühestens nach dem Sommer zurückerwartet. Dennoch suchte jeder im Publikum nach dem bekannten Gesicht und dem hohen Hut, den er stets trug, wenn er ins Theater ging, sowie nach der unbändigen, inzwischen grau melierten Haarpracht. Alle flüsterten und zeigten: Ist es der Mann, der verdeckt in der Loge sitzt, war es der Mann, den sie vor der Vorstellung am Bühneneingang gesehen hatten?
Amelie hob den Fächer. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, sicherlich auch, weil einige ältere Herren an großen Zigarren zogen. Das Kleid klebte ihr förmlich am Leib. Die Hitze war jedoch nicht allein dafür verantwortlich, dass sie nach Luft schnappte und sich an ihren Stuhl klammerte. Das Drama, das sich vor ihren Augen abspielte, hatte sie völlig in seinen Bann geschlagen. Die Koloraturen der Sopranistin fraßen sich auf geradezu beängstigende Weise in ihr Inneres. Sie ertappte sich dabei, die hohen Töne mitzuatmen, wie sie es immer getan hatte, wenn ihre Mutter vor Publikum aufgetreten war. Außerdem schien die Stimme ein ganz anderes Drama aufzuführen als das auf der Bühne. Amelie sah nicht die Prinzessin und ihr tragisches Liebesschicksal, nahm weder die historischen Kostüme noch das konventionelle und plumpe Bühnenbild wahr.
Sie hatte sich vielmehr in einen Zustand versetzen lassen, in dem jede Arie die Geschichte ihres Lebens erzählte, in dem jeder Atemzug ihr eigener war und die übertriebenen Gesten auf der Bühne ihre eigenen Unzulänglichkeiten widerspiegelten. Die unmögliche Liebe. Und den Verrat, der unausweichlich in Untergang und Verderben führte.
Isabeau hatte geliebt und würde nun den Preis dafür bezahlen müssen. Das Ende war unausweichlich: Sie würde den dritten Akt nicht überleben.
Amelie schloss die Augen und gab sich ganz der Musik hin.
Ihr Leben mit Andreas war vorbei. Außerdem war sie von dem Menschen hintergangen worden, dem sie am meisten vertraut hatte, ihrer besten Freundin, der sie ihre intimsten Gedanken enthüllt hatte. Sie konnte nur fliehen, sonst war sie verloren.
Sie hatte alles verloren, wofür sie ihr ganzes Leben gekämpft hatte. Es gab nichts, was sie nicht geopfert hatte. Auf einmal stand Amelie ihre letzte Begegnung mit Andreas vor Augen. Sie hatte ihm gesagt, sie sei bereit, einen letzten Versuch zu wagen. Nach all den Jahren, in denen sie im Schatten seiner Depressionen und seiner Unberechenbarkeit gelebt hatte, erklärte sie sich bereit, trotz allem zu versuchen, ihre Ehe zu retten. Sie hatte sogar einen Plan dafür entworfen, wie sie gemeinsam die Probleme lösen würden: Sie selbst würde sich zurücknehmen und nicht mehr so impulsiv sein, er würde sich bemühen, gegen sein stetig wiederkehrendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit anzukämpfen, statt ihm jedesmal nachzugeben. Gemeinsam würden sie es schaffen, hatte sie erklärt.
Sie hatte vor ihm gestanden und darüber gesprochen, dass ihre gemeinsame Zeit vielleicht doch noch nicht vorüber war. Dann hatte sie gemerkt, dass er ihr nicht mehr zuhörte und sie nur aus traurigen Augen ansah.
»Nein«, hatte er erwidert, »es ist zu spät, es gibt nichts mehr zu retten, es ist alles verloren.«
Er war ihrem Blick ausgewichen und gegangen. Nein, hatte er gesagt. Er! Nach all den Opfern, die sie gebracht hatte.
Isabeaus und Folcos Duett im Gefängnis steigerte sich und fand den Weg in höhere Tonlagen. Sie weigerte sich aufzugeben, sie war bereit, alles dafür zu opfern, ihn zu befreien. Er aber schüttelte nur den Kopf und schien einzusehen, dass es aus war. Sie würden sich niemals ungestraft lieben können. Ihr Gefühlsausbruch mündete in einen Gesang über die ewige Liebe.
Aber insgeheim wusste sie, was kommen würde, davon war Amelie überzeugt. Ihre Stimme schien jeden Moment brechen zu wollen, manchmal stürmte sie los, um in der nächsten Sekunde so zu flüstern, dass man sich vorlehnen musste, um ihre Verzweiflung zu
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