Ein unversoehnliches Herz
mich nur so gefreut. Ja also, weil du dich so freust.«
Amelie biss von ihrem Brot ab und fragte:
»Was macht Andreas?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ob es ihm gut geht.«
»Doch …
»Du brauchst nicht so ängstlich zu gucken, Madeleine. Ich wollte nur wissen, wie es ihm geht.«
Lieber Bruder …
Ich weiß. Wenn man nachts wach liegt, geschehen seltsame Dinge. Je stiller es im Haus wird, desto mehr tost es im eigenen Körper. Man ist in Gedanken bei Dingen, die man gesagt hat oder besser gesagt hätte. Es spielt keine Rolle, dass man sie abzuschütteln versucht. Es ist, als hätten sie sich einem ins Gehirn eingeätzt.
Stundenlang hast du so gelegen, ohne das Gedankenkarussell anhalten zu können. Doch nun, endlich, kommst du in deinem Bett zur Ruhe, nachdem du dich so lange hin und her gewälzt hast. Endlich ist es dir gelungen, die Gedanken an Madeleine, die immer gleichen Anschuldigungen und Verleumdungen, zu verdrängen.
Eine Ehebrecherin! Da kann sie noch so sehr den unschuldigen Schutzengel spielen!
So hat es sich in deinem Kopf gedreht. Immer und immer wieder. Sobald du dich beruhigt hast, schlägt der Gedanke wieder zu – und anschließend dreht sich das Karussell von Neuem mit den gleichen Vorwürfen von Betrug und bösen Absichten.
Doch nun sinkst du sachte in jenen herrlichen Dämmerzustand, den man Schlaf nennt.
Wichtig ist jetzt Gunhild, denkst du, und dass sie die Möglichkeit bekommt, sich auszuruhen und Kraft zu schöpfen. Du siehst ihr stilles Gesicht vor dir, in ihrem Bett in dieser Nacht, von der flackernden Kerzenflamme in Licht getaucht. So schön. Du schließt die Augen, kommst zur Ruhe und spürst, dass du dich langsam dem Schlaf näherst.
In den letzten Wochen ist dir kurz vor dem Einschlafen seltsamerweise immer das gleiche Bild durch den Kopf geschossen. Es liegt mit Sicherheit an den pochenden Schläfen, an den Magensäften, die dich von innen zersetzen, an den krankhaften Sorgen, meinem Tod und Gunhilds geschwächtem Zustand.
Allerdings ist es kein unangenehmes Bild, weiß Gott nicht. Es erfüllt dich mit einer unerklärlichen Wärme, die sich im ganzen Körper ausbreitet, sodass du dich entspannst. Du spürst sogar, dass in deinem Schoß Hitze aufwallt, der schmerzende Schädel Ruhe findet und sich das Pochen im Körper nach unten verlagert. Du legst dich auf die Seite, kauerst dich zusammen wie ein Fötus, schiebst die Hände zwischen die Beine und fühlst dein Geschlecht langsam größer werden. Ein tiefer Seufzer, bald ist der Schlaf ganz nah …
Dann löst sich Mrs d’Espérances Gesicht aus den Schatten: straff, schlicht und doch unmöglich zu fixieren.
Weil Amelie eine Frage stellen
konnte, die sich nicht beantworten ließ.
Rom, 25. Juni 1912
Madeleine machte es sich im Caffè Greco auf ihrem Stuhl bequem. Amelie war vor ihrem Besuch so enthusiastisch gewesen, hatte das Lokal bis ins kleinste Detail beschrieben, nicht zuletzt alle Berühmtheiten, die dort gewesen waren, Schriftsteller, die über das Lokal geschrieben hatten. Nun hatte es allerdings den Anschein, als wäre jede Luft aus ihr gewichen. Dabei saßen sie noch keine fünf Minuten in dem Café.
»Will denn gar keiner kommen und unsere Bestellung aufnehmen?«
Madeleine lächelte über Amelies Ungeduld, an die sie allerdings gewöhnt war.
»Es kommt bestimmt gleich jemand.«
Madeleine überhörte geflissentlich Amelies demonstratives Schnauben, rutschte stattdessen auf dem wackeligen Stuhl herum. Wenn das Café wirklich so berühmt war, dann sicher nicht für seine bequemen Sitzmöbel.
Plötzlich zog Amelie eine kleine Fotografie heraus und zeigte sie Madeleine.
»Was ist das?«
»Ein sehr seltsames Bild«, erwiderte Amelie. »Aufgenommen in Heleneborg.«
»Heleneborg? Du meinst, ein Bild von Andreas?«
Amelie nickte.
Auf dem Foto, das so klein war, dass es in Madeleines Handteller Platz fand, sah man Andreas, der halb abgewandt von der Kamera stand. Er war wie ein mitteleuropäischer Jäger gekleidet, trug Knickerbocker und ein Tweedjackett. Es fällt schwer, dachte Madeleine, exakt zu bestimmen, was seine Armbewegung in Gesichtshöhe zu bedeuten hat. Hielt er sich den Kopf oder schützte er sich nur vor aufdringlichem Sonnenlicht? Lachte er vielleicht sogar oder tat er so, als hätte er Angst, als wäre er mitten in einem Spiel?
Oder floh er Hals über Kopf?
»Es ist unter merkwürdigen Umständen entstanden«, meinte Amelie. »Es wurde aufgenommen, als ich ihm das erste Mal sagte,
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