Ein unversoehnliches Herz
weiß ich doch, dass er mir eines Tages offen ins Gesicht lügen wird. Ihm fehlen die Hemmungen normaler Menschen. Ja, ich habe Angst vor ihm und Angst vor dem, was er sich später in seinem Leben antun wird. Ein einziges Mal habe ich ihn angeschrien, was mir gar nicht ähnlich sieht, aber er hatte auf dem Hof ein Huhn sadistisch zu Tode gequält. Ich habe ihn angeschrien, ob er verrückt geworden sei. Er ist davongelaufen, und am Anfang habe ich gedacht, ich hätte ihm Angst gemacht, er hätte Angst davor, dass ich ihn schlagen würde. Ich musste ihn suchen gehen. Als ich an einer Waldlichtung stand und nach ihm rief, hörte ich um mich herum seltsame Geräusche. Dumpfe Schläge zu beiden Seiten. Ich drehte mich um, und es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass es Steine waren, zum Teil richtig große Brocken. Er hockte hinter einem Felsen und hatte einen Vorrat an Steinen gesammelt. Als ich dann kam, fing er an, mich damit zu bewerfen. Nachdem er mich zweimal getroffen hatte, einmal am Bein und einmal an der Schulter, musste ich das Weite suchen. Er ist mein Kind, ich liebe ihn, obwohl er es einem manchmal unglaublich schwer macht, ihn zu lieben. Ich werde ihn nach Rom holen. Wir werden glücklich sein, er und ich. Er ist der einzige Mensch, den ich jetzt noch habe.
III Die Familie ist versammelt
(1913–1914)
Angst kann man vergleichen mit Schwindel. Wessen Auge in eine gähnende Tiefe hinunterschaut, dem wird schwindlig. Der Grund seines Schwindels aber ist ebenso sehr sein Auge wie der Abgrund; denn gesetzt, er hätte nicht hinuntergestarrt!
Søren Kierkegaard,
aus Der Begriff der Angst – Eine einfache
psychologisch-hinweisende Überlegung in Bezug
auf das dogmatische Problem der Erbsünde
Lieber Bruder …
Als du die Augen öffnest, sind deine Kopfschmerzen verschwunden. Du blinzelst mehrmals. Heftig. Das Bild von Mrs d’Espérance ist jetzt fern, so fern wie damals, als dich die Nachricht erreichte, dass sie in Göteborg einen Geschäftsmann namens Fidler geheiratet hatte, vielleicht hieß er auch Friedel. Jedenfalls hatte er sie einige Jahre zuvor als Kassiererin eingestellt.
Du setzt die Füße auf den kalten Fußboden und atmest durch die Nase, um sie frei zu bekommen. Nein, trotz des kalten Wetters hast du keinen Schnupfen, es ist nur der übliche Nachtschleim. Du weißt nicht recht, ob du geschlafen oder nur gedöst hast.
Die Schmerzen sind vom Kopf in den Bauch gewandert; du hörst es rumoren. Du findest deine Pantoffeln und schiebst die Füße hinein. An den blässlich weißen Knöcheln treten deutlich die dünnen Venen hervor. Du weißt, dass du den Körper eines alternden Mannes hast, auch wenn du für deine fünfzig Jahre in guter Verfassung bist.
Es ist vollkommen still. Du kneifst die Augen zusammen, um auf die Uhr zu sehen, jedoch vergeblich, und tastest nach deiner Brille. Vier Uhr. Du seufzt. Dann lohnt es sich im Grunde nicht mehr, wieder einzuschlafen, du kannst genau so gut aufstehen.
Du gehst zum Fenster und hebst den Vorhang ein klein wenig an. Am liebsten würdest du wieder zu Gunhild hineingehen, aber du beschließt zu warten. Das hat noch Zeit, denkst du.
Die Wolken scheinen schnell am dunklen Himmel vorüberzuziehen, der nur vom schwachen Mondlicht erhellt wird. Du zündest eine Kerze an und siehst ihre Flamme im Luftzug vom Fenster flackern. Es ist praktisch unmöglich, eine kalte Novembernacht aus dem Zimmer zu halten, ganz gleich, wie viel Holz du aufs Feuer wirfst. Du ziehst den Nachttopf unter dem Bett hervor, aber obwohl du so dringend pinkeln musst, dass deine Blase kurz vor dem Platzen zu sein scheint, kommen nur wenige Tropfen. Enttäuscht stehst du da und siehst sie Spritzer für Spritzer herabfallen.
Plötzlich fällt dir ein, dass du so einmal deinen Vater gesehen hast, als wartete er darauf, dass mehr kommen würde. Am Ende hast du ihn fluchen und seinen Hosenstall zuknöpfen hören.
Es gibt tausend Dinge, über die ich gerne mit Vater sprechen würde. Ich weiß, dass es dir genauso geht. Er strahlte so viel Wärme und Menschenliebe aus. Ich weiß allerdings auch, wie sehr es dich gestört hat, dass er einen engen Kontakt zu mir gesucht hat. Viele meinten, meistens im Scherz, aber trotzdem, ich sei Vaters und du Mutters Liebling gewesen.
Ich weiß, das hat dich ungemein gestört.
Bleibt die Frage, ob unsere Mutter solch starker Gefühle überhaupt fähig ist. Auch du hast sie niemals verstanden, obwohl du dir wirklich Mühe gegeben hast. Du hast all
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